Es gilt das gesprochene Wort!
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29. September 2000, 9.30 Uhr
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Nach dem Abschied von Bonn heiße ich Sie zur ersten Sitzung des Bundesrates in seinem neuen Domizil in Berlin, dem ehemaligen Preußischen Herrenhaus, willkommen. Heute ist ein besonderer Tag. Der Bundesrat nimmt nicht nur seine Arbeit nach der Sommerpause wieder auf; er tritt zum ersten Mal seit dem 9. November 1990 wieder in Berlin zusammen, der Hauptstadt des geeinten Deutschland. Er wird heute und in Zukunft in einem Haus tagen, das wie wenige die jüngere deutsche und preußische Geschichte widerspiegelt.
Lassen Sie mich nur einiges aus der Geschichte des Herrenhauses in Erinnerung rufen! Das Gebäude selbst, in dem wir uns hier befinden, ist etwa 100 Jahre alt. Vor ihm stand an dieser Stelle ein Palais, das einst weit vor den Toren Berlins errichtet worden war und ab 1826 das Elternhaus von Felix Mendelssohn Bartholdy war.
1851 kaufte der preußische Staat Palais und Grundstück. Noch im selben Jahr tagte darin die Erste Kammer Preußens, das Herrenhaus. 1898 wurde das alte Palais abgerissen und das heutige Gebäude als dreiflüglige prachtvolle Anlage im Stil der Neurenaissance errichtet. Das Herrenhaus selbst hat eine wechselvolle - um nicht zu sagen: spezifisch preußische - Geschichte. Das so genannte Oberhaus bildete die Erste Kammer im preußischen Staat. Es wurde nach seinen Mitgliedern, die fast ausschließlich der Oberschicht angehörten, "Herrenhaus" genannt.
Seine Entwicklung war auch eine Folge der Bürgerlichen Revolution von 1848/49. Das Zwei-Kammer-System hatte sich bereits im Europa des 19. Jahrhunderts etabliert. Es war nicht Ausdruck föderaler Überlegungen. Vielmehr sollte dem Grund besitzenden Adel ein gewisser Anteil an den Institutionen der Gesetzgebung belassen werden. Dem entsprach die Zusammensetzung des damaligen Herrenhauses: Seine Mitglieder waren vom König ernannt. Sie entstammten überwiegend dem Adel; die Mitgliedschaft war erblich. Nur die wenigsten von ihnen, so Bürgermeister großer Städte, trugen zur Repräsentation moderner Lebensbedingungen bei. Es ist deshalb nicht überraschend, dass die Daseinsberechtigung eines so zusammengesetzten Hauses gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend in Frage gestellt wurde. Insbesondere das aufstrebende Bürgertum verlangte nach Mitspracherechten im Oberhaus.
Mit der Novemberrevolution 1918 endete die Epoche des Preußischen Herrenhauses. Statt seiner zog mit dem Beginn der Weimarer Republik der Preußische Staatsrat, die parlamentarische Vertretung der preußischen Provinzen, in das Herrenhaus ein. Der Staatsrat wählte den damaligen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer am 7. Mai 1921 zu seinem Präsidenten. Als Vertretung der preußischen Provinzen hatte der Staatsrat das Recht zur Gesetzesinitiative und -begutachtung in Preußen. Ihm stand ein beschränkt aufschiebendes Veto zu. Ein Vorläufer unseres heutigen Bundesrates war er nicht. Er war ein Organ des preußischen Staates, das der Vertretung seiner Provinzen diente. Gleichwohl gab es auch damals und innerhalb Preußens Bestrebungen, die mehr Dezentralisation forderten. So begründete Adenauer am 6. Februar 1919 in seiner "Großen Rheinland-Rede" die Notwendigkeit, gegenüber dem Hegemonialstaat Preußen ein Gleichgewicht zu schaffen durch Bildung eines Bundesstaates der "Westdeutschen Republik" im Verband des Deutschen Reiches. Um nicht als Separatist zu erscheinen, beendete er seine Ausführungen mit den Sätzen: Wie soll diese Initiative ergriffen werden? Ich stehe auf dem Standpunkt, dass die Westdeutsche Republik unbedingt auf dem gesetzmäßigen Wege geschaffen werden muss.
Zu einer "Westdeutschen Republik" kam es nicht. 1933 degradierten die Nationalsozialisten das Herrenhaus zur "Stiftung Preußenhaus" und nutzten Teile für das benachbarte Reichsluftfahrtministerium. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand die Akademie der Wissenschaften der ehemaligen DDR in dem teilweise zerstörten Gebäude Aufnahme.
Heute bildet der historische Bau, verbunden mit einer neuen Innenarchitektur, eine gelungene Symbiose zwischen Tradition und Moderne. Allen, die daran mitgewirkt haben, dies zu vollbringen, möchte ich ausdrücklich danken, allen voran unserem Direktor, Professor Oschatz, und seinen Mitarbeitern.
Ich schließe in diesen Dank die Mitarbeiter ein, die in Bonn geblieben sind und sich nicht entschließen konnten, nach Berlin zu kommen. Wir danken weiter dem Architekten Professor Schweger, seinen Mitarbeitern, den Handwerkern und den Bauleuten für eine hervorragende Leistung.
Auch der Bundesrat, meine sehr verehrten Damen und Herren, kann auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken. Von 1871 bis 1918 war er das föderalistisch- monarchische Regierungsorgan des Deutschen Reiches. Bismarck sah in der Pluralität von 25 verschiedenen Regierungen im Bundesrat eine Art - ich zitiere - "Palladium für die Zukunft Deutschlands in dieser Gestaltung. Das föderative Kollegium übt die Souveränität des gesamten Reiches aus. Denn die Souveränität ruht nicht beim Kaiser, sie ruht bei der Gesamtheit der verbündeten Regierungen."
- So weit Bismarck. Das Deutsche Reich war damit zwar formell ein Bundesstaat, der Verfassungspraxis war das ausgewogene Wechselspiel einer bundesstaatlichen Ordnung jedoch fremd. Die Reservatrechte süddeutscher Staaten legen dafür ebenso Zeugnis ab wie die Hegemonialstellung Preußens.
In der Weimarer Republik trat der Reichsrat als föderatives Organ an die Stelle des Bundesrates. Er war die Vertretung der Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung. Im neuen politischen Kräftespiel hatte er kaum mehr etwas mit dem alten Bundesrat gemein, zumal er nicht über ein Recht zur Gesetzesinitiative verfügte.
Mit dem Gesetz über den Neuaufbau des Reiches vom 30. Januar 1934 unterstellten die Nationalsozialisten die Landesregierungen der Reichsregierung in Form nachgeordneter Vollzugsbehörden bei gleichzeitiger Auflösung der Landesparlamente. Das Ende der demokratischen Republik war damals auch das Ende ihrer föderativen Ordnung.
Als sich am 7. September 1949 der erste Bundesrat der Bundesrepublik Deutschland konstituierte, stellte sein Alterspräsident Bühl die erste Sitzung mit den Worten Schillers unter das Motto: "Das vollkommenste Kunstwerk ist der Bau der politischen Freiheit." - Es sollte 40 Jahre dauern, bis sich dieser Wunsch durch die deutsche Wiedervereinigung für alle Deutschen erfüllte. Mit seinem Votum für eine bundesstaatliche Ordnung hat der Parlamentarische Rat 1948/49 eine seiner wichtigsten verfassungspolitischen Entscheidungen getroffen. Heute können wir feststellen: Deutschland hat mit der bundesstaatlichen Struktur seine endgültige politische Ordnung gefunden: die Einheit in der Vielfalt und die Vielfalt in der Einheit im Inneren sowie das Macht verteilende Prinzip, das die Rückkehr zur Hegemonialmacht ausschließt und das Deutschland damit erst dauerhaft europakompatibel werden lässt.
Dass wir die Wiedervereinigung mit Zustimmung aller unserer Nachbarn vollziehen konnten, ist vor allem auch unserer bundesstaatlichen Ordnung geschuldet. Bundestag und Bundesrat sind beides Bundesorgane. Sie sind aufeinander bezogen und stehen in einem Verhältnis der Kooperation zueinander. Deshalb war es letztlich bereits durch dieses Verhältnis geboten, dass der Bundesrat dem Bundestag folgen und seinen Sitz ebenfalls in Berlin nehmen würde. Im Juli haben wir uns von Bonn und seiner Gastlichkeit verabschiedet. Heute begrüßen wir Berlin und wünschen uns von ihm, seinen Bürgerinnen und Bürgern gute Nachbarschaft und eine gute gemeinsame Zukunft.
Was auch immer der Wechsel des Ortes sonst bedeuten mag - er vollzog sich in der Kontinuität der bundesstaatlichen Ordnung. Sie wird die Arbeit des Bundesrates in Berlin ebenso bestimmen, wie sie seine Arbeit in Bonn bestimmt hat. Kontinuität bedeutet nicht Unbeweglichkeit. Als ein Teil des Ganzen nimmt auch die bundesstaatliche Ordnung an den Veränderungen unserer lebendigen Verfassung teil. Wie diese nimmt sie die Veränderungen unserer gelebten staatlichen Wirklichkeit auf. So wurde das Grundgesetz von 1949 bis 1990 36-mal modifiziert. 25 dieser Verfassungsänderungen hatten bundesstaatliche Verfassungsbestimmungen zum Gegenstand: Normen über die Finanzordnung, die Ausweitung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes und die Zusammenarbeit zwischen den Bundesländern und dem Bund, um nur einige zu nennen.
Die bedeutendste Aufgabe des Bundesrates bleibt, wie bisher, die Mitwirkung an der Gesetzgebung des Bundes. Hier kommt unserem föderativen Verfassungsorgan eine zentrale politische Rolle zu und damit auch eine zentrale politische Verantwortung: die Verantwortung für den Erhalt einer lebendigen bundesstaatlichen Ordnung. Auf die Bedeutung dieser Verantwortung haben der Bundesrat und seine Präsidenten stets aufs Neue hingewiesen. Die erste Sitzung des Bundesrates nach der Wiedervereinigung war zu Beginn einer nachdrücklichen Vergewisserung seiner Rolle und seiner Bedeutung für die freiheitlich-demokratische Ordnung des Bundesstaates gewidmet. An seiner Entschlossenheit, als ein eigenständiges politisches Organ mit einer eigenständigen Rolle, einem eigenständigen politischen Gewicht zu handeln und dieses zu wahren, hat er nie einen Zweifel gelassen. Er ist mitverantwortlich für die gesamte Politik des Bundes und eine Stätte legitimer und notwendiger politischer Auseinandersetzung. Auf diese Entschlossenheit des Bundesrates, an der Gestaltung der deutschen Politik verantwortlich und als Hüter der bundesstaatlichen Ordnung teilzunehmen und mitzuwirken, werden wir auch in Zukunft angewiesen bleiben. Das gilt nicht nur für die Entwicklung der bundesstaatlichen Verfassungswirklichkeit in den kommenden Jahren, es gilt gleichermaßen für die Entwicklung der Europäischen Union auf ihrem Weg zur Erweiterung und zur weiteren politischen Integration. Wollte man eine europäische Verfassung schreiben, die nicht nur den institutionellen Bedürfnissen, sondern ebenso den historischen und politischen Erfahrungen Preußens Rechnung trägt, dann müsste man in ihr auch die bundesstaatliche Ordnung Deutschlands als dem bevölkerungsreichsten Staat in der Mitte der Europäischen Union verankern. Denn erst die mit dieser Ordnung gewährleistete Machtverteilung innerhalb Deutschlands und die Selbstständigkeit der Länder macht die deutsche Nation europaverträglich. Nur sie gibt den Ländern die Möglichkeit, nicht nur Anwälte guter Nachbarschaft mit unseren Nachbarn, sondern auch Brückenbauer in einem Europa der Vielfalt zu werden und diese Vielfalt zugleich mit Leben zu erfüllen. Welche Gestalt unsere bundesstaatliche Ordnung in den kommenden Jahren annehmen wird, werden wir im Bundesrat und im Kreis der Bundesländer maßgeblich mitbestimmen.
Drei Aufgaben sind es vor allem, die uns gestellt sind: Die Neuordnung der Finanzverfassung als Erstes: Sie ist die eigentliche Bewährungsprobe jeder bundesstaatlichen Ordnung, der Selbstständigkeit der Länder und der Ländervielfalt. Die Länder müssen sich zu ihrer Selbstständigkeit nicht nur bekennen, sie müssen sie auch wirklich wollen. Das heißt aber auch, der Versuchung zu widerstehen, sich der Verantwortung für eigenständiges Handeln durch die Flucht unter die Gesetzgebung des Bundes zu entziehen.
Zweitens die Fortführung des Solidarpaktes: Er ist Ausdruck unserer Einheit und der Solidarität aller Deutschen. Diese hat sich in den zurückliegenden zehn Jahren eindrucksvoll bewährt. Die ostdeutschen Länder werden auch in den kommenden Jahren auf die Solidarität des ganzen Deutschland angewiesen bleiben.
Drittens die Fortentwicklung der europäischen Institutionen und die Neubestimmung der Zuständigkeiten der Union und ihrer Mitgliedstaaten: Hier geht es um die weitere Regierungskonferenz, die in Nizza beschlossen werden soll. Die Europäische Union - auch in ihrer erweiterten Dimension - kann den gelebten Bundesstaat in Deutschland nicht ersetzen. Sie kann ihn, richtig verstanden, jedoch bereichern. Länder und Bundesrat müssen dazu das Ihre beitragen. Wo einst der Preußische Staatsrat die Provinzen Preußens repräsentierte, werden die deutschen Länder ab heute ihren Beitrag zum Bundesstaat und zu seiner Zukunft leisten. Sie, die Länder, sind die Quelle der Souveränität der Bundesrepublik, und in ihrer Einheit in Vielfalt konstituieren sie die deutsche Nation.
Unsere Arbeit und damit die Gestaltung der deutschen Verfassungswirklichkeit wird darüber entscheiden, ob es so bleibt oder ob sich der Bundesrat dereinst dem Preußischen Staatsrat angleicht und de facto zu einer Vertretung deutscher Provinzen wird. Lassen Sie uns mit dem Beginn unserer Berliner Zeit unsere Entschlossenheit erneuern, Deutschland seine bundesstaatliche Ordnung zu erhalten und sie zum Wohle Europas zu sichern!
Erlauben Sie mir noch eine kurze Bemerkung: Als Sächsischer Ministerpräsident und derzeit amtierender Bundesratspräsident ist es für mich wie auch für den Freistaat Sachsen eine besondere Auszeichnung, an diesem Tag präsidieren zu dürfen. Der Freistaat Sachsen möchte dem Bundesrat ein Geschenk machen. Es ist eine Glocke, eine Präsidentenglocke mit Hammer aus Meißner Porzellan. Ich möchte sie Herrn Direktor Oschatz als Geschenk des Freistaates Sachsen übergeben. Die Sachsen stören sich nicht daran, dass sie blau-weiß und nicht grünweiß ist. Blau-weiß ist die Farbe Meißens.
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