20.11.2000

anlässlich seines Besuchs in Brüssel am 21. November 2000 Ansprache des Präsidenten des Bundesrates, Ministerpräsident Kurt Beck

Es gilt das gesprochene Wort! Achtung: Sperrfrist beachten! 21. November 2000, 18.00 Uhr

1. Wechsel im Amt des Bundesratspräsidenten stärkt Zusammenhalt und bietet Gelegenheit für Innovation

Anrede,

der turnusmäßige Wechsel im Amt des Präsidenten des Bundesrates der Bundesrepublik Deutschland ist ein wesentliches Merkmal für die Arbeit des Verfassungsorgans Bundesrat. Die zwölfmonatige Amtszeit stärkt den Zusammenhalt zwischen den deutschen Ländern und bietet Gelegenheit, eigene inhaltliche Akzente zu setzen.

Für meine Zeit als Bundesratspräsident habe ich mir zwei Schwerpunkte vorgenommen:

  • erstens die Belebung der öffentlichen Diskussion um das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern; wir benötigen eine "Bürgergesellschaft", die vom Engagement der Menschen getragen wird, und
  • zweitens die Frage nach dem Verhältnis der europäischen Ebene zu den Ländern und Regionen in Europa, wobei mich insbesondere die künftige Rolle der Regionen in der Europäischen Union interessiert.

Beide Vorhaben stehen für mich in einem Zusammenhang. Denn es geht jeweils darum, im Sinne der Subsidiarität ein Übermaß an staatlichem Handeln zurückzudrängen und Probleme möglichst bürgernah zu lösen, im Idealfall sogar von den Bürgern selbst.

Den von mir beschriebenen Prioritäten entspricht es, dass meine erste Auslandsreise - aus europäischer Sicht eher eine Inlandsreise, ein Antrittsbesuch - nach Brüssel führt, dem wichtigsten Arbeitsort der Organe der Gemeinschaft. Das Verhältnis zwischen den deutschen Ländern und der Europäischen Union ist gerade in der jüngsten Vergangenheit nicht immer spannungsfrei gewesen. Mein Ziel ist es in den kommenden zwölf Monaten, den Dialog zu intensivieren und um Verständnis für die Positionen der jeweils anderen Seite zu werben.

2. Die Regionen brauchen Europa

Anrede,

die Lebenssituation der Menschen in unserem Land wird zunehmend durch das Zusammenwachsen Europas geprägt. Die Europäische Union bietet den Mitgliedstaaten wie auch ihren Ländern und Regionen einen unverzichtbaren Rahmen zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen. Nur durch die Bündelung von Kräften und Interessen auf der europäischen Ebene sind wir heute in vielen Sachfragen noch in der Lage, auf die globalen Herausforderungen der Zeit angemessene Antworten zu geben.

Das wirtschaftliche und politische Zusammenwachsen unseres Kontinents bietet uns allen große Zukunftschancen. Wegen seiner Wirtschaftsstruktur und der geographischen Lage muss Deutschland am europäischen Binnenmarkt besonders interessiert sein. Dies gilt auch im Hinblick auf die künftigen EU-Staaten in Mittel- und Osteuropa. 1999 exportierte Deutschland insgesamt Waren im Wert von 992,3 Mrd. DM. Mehr als die Hälfte davon ging in den EU-Raum. Fast ein Zehntel des Außenhandels Deutschlands wird darüber hinaus mit den Staaten Mittel- und Osteuropas abgewickelt, das entspricht in etwa dem Außenhandelsvolumen mit den USA.

Zudem sollten wir nicht vergessen: Das wesentliche Motiv für die europäische Einigung war von Anfang an die Verhinderung der furchtbaren Erfahrungen der europäischen Bruderkriege. Durch die Europäische Union ist das Leben der Menschen sicherer geworden.

Ich möchte noch auf einen Vorteil hinweisen, den speziell die Regionen aus der europäischen Zusammenarbeit ziehen können. Der vielfältige und regelmäßige Kontakt zwischen den europäischen Regionen führt zu einem weit reichenden Erfahrungsaustausch. Gelungene Projekte und neue Politikansätze werden weitergegeben und bieten Ansporn für entsprechende Aktivitäten auch in anderen Teilen Europas. Auch dies führt im Ergebnis dazu, dass die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Konkurrenten aus anderen Teilen der Welt erhöht wird.

All dies zeigt: Die Europäische Union ist heute ein unverzichtbarer Handlungsrahmen für die Mitgliedstaaten und ihre Regionen.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang der Europäischen Kommission und auch dem Europäischen Parlament dafür einmal ausdrücklich Dank sagen, dass sie in den vergangenen Jahren engagiert am europäischen Aufbauwerk gearbeitet haben. Insbesondere die neue Kommission unter der Leitung von Romano Prodi hat durch Reformen sowohl die Arbeitsstruktur der Kommission verbessert als auch ihr Ansehen als Gemeinschaftseinrichtung wiederhergestellt. Ihrer Verpflichtung auf die Interessen der Mitgliedstaaten und Regionen hat die Kommission hierbei deutlich Rechnung getragen.

3. Die Ursachen für die wachsende Europa-Skepsis und der Reformbedarf in der EU

Anrede,

trotz dieser positiven Veränderungen ist die zunehmende Kritik an der Kommission und an der EU insgesamt nicht zu übersehen. Mich beunruhigt die seit Jahren schwindende Akzeptanz der EU in weiten Teilen der Bevölkerung.

Bereits seit Mitte der 70er Jahre werden im Auftrag der Europäischen Kommission die so genannten "Eurobarometer" Umfragen durchgeführt. Die Ergebnisse der letzten Befragung vom Oktober 2000 zeigen einmal mehr, dass die Unterstützung für die EU seit Beginn der 90er Jahre deutlich zurückgegangen ist.

Während 1990 noch EU-weit 68 Prozent der befragten Bürgerinnen und Bürger die Mitgliedschaft des eigenen Landes in der EU für eine gute Sache hielten, waren es im Frühjahr 2000 lediglich 49 Prozent.

Anlass zur Sorge bietet auch die Beteiligung an Europawahlen. Sie lag bei der letzten Wahl im Juni 1999 im Durchschnitt der EU-Staaten bei 49,4 Prozent. Damit ist sie im Vergleich zu den vorausgehenden vierten Direktwahlen um 7 Prozentpunkte gefallen. In Deutschland war sogar ein Rückgang bei der Wahlbeteiligung um fast 15 Punkte von 60,0 auf nunmehr 45,2 Prozent zu verzeichnen.

Auch wenn man derartige Ergebnisse nicht überbewerten sollte, weiß ich aus vielen Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern, dass im Hinblick auf die europäische Einigung eine wachsende Zurückhaltung und Skepsis vorhanden ist.

Dies hat in Deutschland in besonderer Weise mit der Einführung des Euro zu tun. Eine Rolle spielt daneben auch die beschlossene Erweiterung der EU um zahlreiche Staaten in Mittel- und Osteuropa, deren Auswirkungen für die Menschen nur schwer einzuschätzen sind.

Damit kein Missverständnis eintritt: Ich unterstütze nachhaltig diese beiden Projekte. Es ist Aufgabe der Politik, die Menschen von der historischen Notwendigkeit dieser Schritte zu überzeugen. Dem müssen wir uns alle stellen.

Viele Bürgerinnen und Bürger nehmen die EU heute in erster Linie als einen riesigen abstrakten Wirtschafts- und Verwaltungsverband wahr, der durch anonyme Wirtschaftsregulierung, durch Zentralismus und durch eine wachsende Bürokratie gekennzeichnet ist. Hier müssen wir gegensteuern.

Wir brauchen ein Europa, in dem sich die Menschen aufgehoben und beheimatet fühlen können. Wir brauchen ein Europa, das mehr Demokratie wagt, und wir brauchen eine europäische politische Kultur die den wirtschaftlichen und politischen Einigungsprozess trägt und das von Jacques Delors beschriebene "europäische Modell" weiterentwickelt. Dieses verbindet wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die Fähigkeit und Bereitschaft zu Innovation mit sozialer Ausgewogenheit und einem fortschrittlichen Umweltschutz.

Das künftige Europa benötigt zudem eine klarere Zuordnung von Verantwortung, eine bessere Durchschaubarkeit der Entscheidungsverfahren, verbesserte Beteiligungsmöglichkeiten, Stärkung der Entscheidungsfähigkeit und vor allem auch die Achtung der innerstaatlichen Strukturen und Traditionen der Mitgliedstaaten.

Wir benötigen insgesamt eindeutigere Spielregeln zwischen den beteiligten Institutionen und auch zwischen den verschiedenen Ebenen.

Um dies zu erreichen ist meines Erachtens eine doppelte Reform der EU erforderlich:

  • Die Regierungskonferenz von Nizza ist gefordert, in institutioneller Hinsicht die Grundlagen für die Osterweiterung zu schaffen.
  • Nach Nizza sollte umgehend der Prozess zur Ausarbeitung einer europäischen Verfassung in Gang gesetzt werden.

Erste Herausforderung: Nizza muss ein Erfolg werden

Anrede,

in wenig mehr als zwei Wochen kommt der Europäische Rat in Nizza zusammen, um über die für die EU-Osterweiterung notwendigen vertraglichen Veränderungen zu beraten. In der Regierungskonferenz besteht Übereinstimmung darin, die Tagesordnung auf wenige Punkte, die so genannten von Amsterdam, zu begrenzen.

Die deutschen Länder sind als Teil der deutschen Delegation an den Verhandlungen beteiligt. Bereits frühzeitig haben sie gegenüber der Bundesregierung signalisiert, dass sie die vereinbarten Verhandlungsziele mittragen.

Die Länder haben zusammen mit anderen europäischen Regionen und den Kommunen im Ausschuss der Regionen gemeinsame Positionen erarbeitet. Auf Initiative Flanderns haben darüber hinaus die Gebietskörperschaften mit eigener Gesetzgebungsbefugnis vor wenigen Wochen eine eigene Stellungnahme zur Regierungskonferenz vorgelegt.

Die Verhandlungen befinden sich derzeit in der Schlussphase. In diesem Kreis ist nicht notwendig, die Tagesordnung der Regierungskonferenz im Detail zu erläutern. Lassen sie mich jedoch aus einer regionalen Sicht der deutschen Länder einige Anmerkungen zu den absehbaren Ergebnissen und zu den Bereichen machen, bei denen wir derzeit noch Probleme sehen.

Hinsichtlich des Übergangs zur Mehrheitsentscheidung im Rat haben die deutschen Länder in einer Vielzahl von Fällen Zustimmung signalisiert. Gleichzeitig müssen sie aber darauf bestehen, dass in einigen besonders sensiblen Materien die Länderinteressen durch eine Beibehaltung der Einstimmigkeit in besonderer Weise zu wahren sind. Dies betrifft unter anderem Entscheidungen im Kulturbereich, Regelungen zur Handwerksordnung sowie die Frage der Raumordnung im Zusammenhang mit der Umweltpolitik.

Um dies sehr deutlich zu sagen: In den genannten Handlungsfeldern geht es uns nicht darum, untätig zu sein.

Vielmehr sollte die Europäische Union im Sinne einer sachgemäßen Anwendung des Subsidiaritätsprinzips in diesen der regionalen Ebene zuzurechnenden Bereichen nicht über Mehrheitsentscheidungen Vorbehalte in einzelnen Mitgliedstaaten und Regionen übergehen. Dahinter steht das Problem der Aufgabenverteilung zwischen den verschiedenen politischen Ebenen.

Auch wenn die deutschen Länder die Begrenzung der Tagesordnung letztlich mittragen, wäre es ihnen in einigen Bereichen lieber gewesen, wenn weitere Fragen von der Regierungskonferenz behandelt worden wären. Dies betrifft - wie auch das genannte Beispiel zeigt - unter anderem die eindeutigere und systematische Abgrenzung von Kompetenzen zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten einschließlich der Regionen.

In diesem Zusammenhang haben wir auch auf das besondere Problem der Daseinsvorsorge hingewiesen. Gerade in dieser Frage haben wir in der Vergangenheit den Eindruck gewonnen, dass die Kommission auf die Interessen von Mitgliedstaaten und Regionen im Einzelfall zu wenig eingeht. Hier ist uns an einer Klarstellung auf vertraglicher Grundlage sehr gelegen. Das Amsterdamer Protokoll zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt meines Erachtens einen vorzüglichen Anhaltspunkt, wie dies geschehen könnte.

Über all diese Fragen haben wir mit der Bundesregierung intensiv verhandelt. Dabei sind wir gemeinsam zu der Überzeugung gelangt, dass im Interesse der von uns unterstützten zügigen Osterweiterung die laufende Regierungskonferenz termingerecht im Dezember abgeschlossen werden sollte.

Zugleich dringen wir aber darauf, dass bereits in Nizza eine weitere Reformrunde beschlossen wird. Diese Reformrunde muss aus Ländersicht deutlich ehrgeiziger sein als die derzeitige.

Zweite Herausforderung: Den europäischen Verfassungsprozess organisieren

Anrede,

in den zurückliegenden Monaten hat eine intensive Debatte um die künftige Ausgestaltung der Europäischen Union begonnen, an der sich neben anderen Bundespräsident Johannes Rau mit einem am 4. November 1999 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in Le Monde zeitgleich erschienenen Namensartikel, der deutsche Außenminister Joschka Fischer mit seiner Rede vom 12. Mai 2000 in der Berliner Humboldt-Universität, der französische Staatspräsident Jacques Chirac mit seiner Rede vom 27. Juni 2000 vor dem Deutschen Bundestag und der britische Premierminister Blair mit seiner Rede am 6. Oktober 2000 in Warschau beteiligt haben.

Die Diskussion um die Rechtsform und um den möglichen Inhalt der europäischen Verfassung hat somit längst begonnen. Eine Vielzahl von Fragen ist dabei angesprochen:

  • Bei der gegenwärtigen Regierungskonferenz hat die Europäische Kommission eine Zweiteilung der europäischen Verträge in einen Verfassungsteil und einen eher "technischen" Anhang vorgeschlagen. Sollten wir dem folgen?
  • Unter der Leitung von Altbundespräsident Prof. Roman Herzog hat der vom Europäischen Rat eingesetzte Konvent den Entwurf der Charta der Grundrechte der EU ausgearbeitet. Der Entwurf wurde dem Europäischen Rat von Biarritz am 13./14. Oktober 2000 vorgelegt. Nunmehr ist zu entscheiden, ob und in welcher Form die Charta in die EU-Verträge integriert wird.
  • Zudem drängen die deutschen Länder - auch im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion um die Daseinsvorsorge - auf eine verbesserte Abgrenzung der Aufgaben zwischen der europäischen, der nationalen und der regionalen Ebene. Wie können wir dieses Anliegen befördern?

Die deutschen Länder haben erreicht, dass die Bundesregierung inzwischen dafür eintritt, dass beim Europäischen Rat Anfang Dezember in Nizza eine rechtsverbindliche Vereinbarung über eine weitere Reformrunde getroffen wird. Dies hat Bundeskanzler Schröder am 4. September 2000 vor 200 deutschen Botschaftern in Anwesenheit des französischen Außenministers Védrine öffentlich bekundet.

Ich denke, alle europäischen Regionen werden sich aktiv an der nunmehr beginnenden Diskussion beteiligen. Sie können mit guten Argumenten darauf verweisen, dass in der Gemeinschaft Mitgliedstaaten und Regionen im Interesse von Bürgernähe auch tatsächlich über Gestaltungsräume verfügen müssen. Ihnen muss eine eigene Verantwortlichkeit bleiben, so wie es in Deutschland das Grundgesetz fordert. Zugleich ist Flexibilität notwendig, um eigene Traditionen und vorhandene Strukturen bewahren zu können. Wir benötigen einen europaweiten Wettbewerb der Ideen, um auch künftig die Chancen der regionalen Vielfalt nutzbar machen zu können.

Die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips ist aus meiner Sicht für die Zukunftsfähigkeit der EU von Ausschlag gebender Bedeutung.

Die Gemeinschaft muss ein starkes Eigeninteresse an der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips haben. Mitgliedstaaten und Regionen benötigen eigene Handlungsmöglichkeiten, um sich im Binnenmarkt und auch darüber hinaus global behaupten zu können. Dies gilt umso mehr, je größer die Union wird. Neben ökonomischen Überlegungen sprechen auch Gründe einer Stärkung der Legitimation für ein derartiges Vorgehen. Eine Konzentration auf die Aufgaben, die sinnvoller Weise nur auf EU-Ebene wahrgenommen werden sollten, würde die Akzeptanz der europäischen Bürger finden. Einhergehen müsste dies mit einer Stärkung des Vertrauens in die Eigenverantwortlichkeit der Mitgliedstaaten, Länder und Regionen.

Konkret ist in diesem Zusammenhang die künftige Aufgabenverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten angesprochen:

  • Bei den Mitgliedstaaten besteht heute hinsichtlich der wesentlichen politischen Zielsetzung der EU ein hohes Maß an Übereinstimmung.
  • Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hat bei der großen Mehrzahl von ihnen Priorität. Hierzu kann die EU durch eine verstärkte Koordinierung der mitgliedstaatlichen Anstrengungen einen wertvollen Beitrag leisten.
  • Die Einsicht gewinnt an Bedeutung, dass die Sanierung der öffentlichen Haushalte im Sinne der Maastricht-Kriterien Voraussetzung für die Gewinnung der wirtschafts- und sozialpolitisch dauerhaften Handlungsfähigkeit ist.
  • Übereinstimmung herrscht auch darin, dass die Bekämpfung des grenzüberschreitenden Verbrechens in der EU verbessert und der Umweltschutz gestärkt werden muss.
  • Die Erfahrungen des Kosovo-Krieges haben deutlich gemacht, dass auch die Handlungsfähigkeit der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik eine Stärkung vertrüge.

Diesen Handlungsfeldern stehen andere Bereiche gegenüber, bei denen nicht die Gemeinschaft, sondern ihre Mitgliedstaaten und die Regionen politische Verantwortung tragen sollen. Hierzu gehören vor allem die Daseinsvorsorge, die regionale Wirtschaftsförderung, die Raumplanung, Wissenschaft, Forschung, Bildung und Medien, Gesundheitsschutz, Tourismus, Jugend und Sport. Auch sollte sich die Europäische Union nicht in Verwaltungsfragen einmischen.

Hier haben wir auf Ebene der Mitgliedstaaten, in Deutschland in den Ländern, bewährte Strukturen und Verfahren, die bewahrt werden sollten.

4. Europa braucht die Regionen

Anrede,

bei der Weiterentwicklung des europäischen Modells spielen die Regionen, in Deutschland die Länder, eine maßgebliche Rolle. Die Regionen sind neben den Nationalstaaten mit ihrer oft unseligen Geschichte von Rivalitäten und Kriegen wesentliche Bausteine für das europäische Haus des gerade begonnenen Jahrtausends.

Wenn ich dies sage, bin ich mir der Unterschiedlichkeit der regionalen Strukturen in Europa deutlich bewusst. Bei aller Unterschiedlichkeit dieser Strukturen ist jedoch in vielen europäischen Staaten eine Stärkung des regionalen Elements festzustellen.

Stichworte hierzu sind die Einsetzung von Parlamenten in Schottland und Wales, die Diskussion um die Dezentralisierung in Frankreich und - wenn wir den Blick nach Mittel- und Osteuropa wenden - die Neugliederung Polens in handlungsfähige Woiwodschaften. Die Förderpolitik der EU führt glücklicher Weise zu einer Stärkung des regionalen Gedankens. Zur Umsetzung ihrer Regionalpolitik sucht die Kommission leistungsfähige Partner auf der regionalen Ebene.

Angesichts dieser veränderten Rahmenbedingungen halte ich die Einbeziehung der regionalen Ebene in den EU-Entscheidungsprozess aus einer Vielzahl von Gründen für einen angemessenen Schritt. Länder und Regionen können einen wesentlichen Beitrag zur Akzeptanzsteigerung der EU leisten:

  • Sie verknüpfen den Vorteil der Überschaubarkeit mit der Notwendigkeit des gemeinsamen europäischen Handelns.
  • In vielen Mitgliedstaaten sind die Regionen für die verwaltungsmäßige Umsetzung von Entscheidungen zuständig. Durch eine Einbeziehung der regionalen Verwaltungserfahrung können Fehler in der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht vermieden werden.
  • In vielen EU-Staaten sind die Regionen zudem für den Bildungsbereich zuständig. Durch eine stärkere Verankerung des Themas "Europa" in Schulen und Universitäten kann die Grundlage für verstärktes Interesse der Bürgerinnen und Bürger an Europaangelegenheiten gelegt werden.

Länder und Regionen sind somit wichtige Mediatoren für europäische Fragen. In Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen hat die Behandlung von Vorlagen der EU eine immer größere Bedeutung. Heute stammt jede dritte im Bundesrat umgedruckte Vorlage von den Organen der Gemeinschaft. Dies macht deutlich, wie wichtig Europafragen in der Arbeit der deutschen Länder sind.

Dies war nicht immer so: Bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaften in den 50er Jahren wurden die Regionen in den Verträgen kaum berücksichtigt. In der Präambel des damaligen EWG-Vertrages wurde lediglich als Ziel für die Gemeinschaft festgeschrieben, den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weniger begünstigter Gebiete zu verringern. Regionen wurden demnach damals als "Objekte", nicht als Handelnde der europäischen Politik verstanden.

Dies hat sich in den 80er und in den 90er Jahren nachhaltig verändert. Im Vorfeld des Maastrichter Vertrages haben sich die europäischen Regionen verstärkt zu Wort gemeldet und eine Weiterentwicklung von EG und EU zu einem "Europa der drei Ebenen" gefordert. Europa hat sich seither mit einem starken regionalen Akzent entwickelt. Hierzu gehören vor allem:

  • die Einrichtung des Ausschusses der Regionen, in dem Vertreter der regionalen und kommunalen Ebene beratend an der Gesetzgebung der Gemeinschaft mitwirken;
  • die Möglichkeit für Minister der regionalen Ebene im Rat für ihre jeweiligen Mitgliedstaaten zu handeln; dies betrifft im Falle Deutschlands die Bereiche Kultur und Bildung, Forschung sowie die polizeiliche Zusammenarbeit.
  • Hinweisen möchte ich auch auf die Errichtung einer Vielzahl von Büros europäischer Regionen in Brüssel. Eine solche Vertretung am Sitz der EU-Organe haben heute alle deutschen Länder.

Die Regionen haben damit ihre Bereitschaft zur konstruktiven Mitwirkung in der EU bewiesen. Der Rückblick auf die Zusammenarbeit mit den Organen der EU - und hier vor allem mit der Kommission - zeigt allerdings auch, dass es in der Vergangenheit immer wieder zu Missverständnissen und auch zu ernsthaften Konflikten kam.

Wir müssen deshalb ernsthaft über ein verbessertes Zusammenspiel der Verwaltungen nachdenken.

Ich bedanke mich ausdrücklich bei Kommissionspräsident Romano Prodi dafür, dass er den Anstoß für die Ausarbeitung des Weißbuches zum Thema "good governance" gegeben hat. Für diesen englischen Ausdruck gibt es kaum eine griffige deutsche Formulierung. Am ehesten kommt dem Ziel der Initiative noch die Wortschöpfung "gutes Regierungshandeln" nahe. Die hier angesprochenen Fragen sind für die regionale Ebene von großer Bedeutung. Gleichzeitig möchte ich nachdrücklich darauf hinweisen, dass das Weißbuch die notwendige Diskussion um die bessere Aufgabenabgrenzung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten einschließlich der Regionen nicht ersetzen kann. Die unseres Erachtens erforderliche Abgrenzung ist der Natur der Sache nach auch nichts, was von der Kommission einseitig vorzunehmen wäre.

Sie gehört in einen Verfassungsvertrag, der zwischen den Mitgliedstaaten abzuschließen sein wird. Aber die Kommission könnte natürlich sehr hilfreich sein.

5. Die notwendige gegenseitige Rücksichtnahme von EU und Regionen

Anrede,

das künftige Zusammenwirken der verschiedenen politischen Ebenen in der EU kann meines Erachtens nur funktionieren, wenn eine partnerschaftliche Beziehung besteht, die auf Vertrauen und wechselseitigem Verständnis beruht. Hierbei kann auf jahrzehntelangen Erfahrungen der Mitgliedstaaten aufgebaut werden. Bewährt hat sich in Deutschland vor allem das Prinzip der Bundestreue. Dieses besagt vereinfacht gesagt, dass der Bund und die Gliedstaaten gleichermaßen Verantwortung für das Ganze tragen und auf die Belange der jeweils anderen Ebene Rücksicht nehmen müssen.

Weder darf die obere Ebene versuchen, alle Aufgaben an sich zu ziehen und damit den Gliedstaaten die Luft zum Atmen nehmen, noch haben diese das Recht, durch eigensinniges Beharren auf Partikularinteressen das Wohl der Gesamtheit aufs Spiel zu setzen.

Ohne das deutsche Verfassungssystem auf die EU übertragen zu wollen, plädiere ich dafür, den Gedanken der Bundestreue auch auf die Gemeinschaft anzuwenden. Artikel 10 des EG-Vertrages enthält hierzu bereits grundlegende Bestimmungen, da er die Mitgliedstaaten auf die Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Vertrag festlegt. Allerdings ist in Bezug auf die EU zu beachten, dass wir es hier nicht nur mit zwei, sondern mit drei Ebenen zu tun haben.

Die Bundestreue hat auf die EU bezogen für jede dieser Ebenen - für die Europäische Union, für die Mitgliedstaaten und auch für die regionale Ebene - konkrete Auswirkungen:

  • Die Europäische Union ist meines Erachtens gehalten, den Mitgliedstaaten und ihren Ländern und Regionen Raum zum eigenständigen Handeln zu lassen. Die Europäische Kommission hat dies in der Vergangenheit nicht immer akzeptiert und beachtet. Stärker als bisher sollte ihre Politik darauf ausgerichtet werden, den Mitgliedstaaten und ihren Regionen Freiräume zur eigenen Politikgestaltung zu erhalten. Sie muss Respekt haben vor gewachsenen Strukturen, sofern der grenzüberschreitende Wettbewerb dadurch nicht über das erträgliche Maß hinaus beeinträchtigt wird.
  • Zu diesem Ansatz gehört es - zweitens - auch, dass die Bundesregierung in Brüssel die Interessen der Länder vertritt. Sie sollte mit Macht dafür eintreten, dass den Ländern der politische Handlungsspielraum für ein funktionierendes, abgestuftes, föderatives System verbleibt.
  • Daraus folgt schließlich drittens, dass die Länder loyal die Ziele der Gemeinschaft mittragen und in den Gesetzgebungsprozess eingebunden sind. Bei der Umsetzung europäischen Rechts haben sie, bedingt durch die föderale Struktur Deutschlands, eine wichtige Rolle, da weder die Europäische Union noch der Bund über die zur Anwendung des europäischen Rechts erforderliche ausdifferenzierte Verwaltung verfügen.

Um mögliche Konflikte frühzeitig auszuräumen sind die Länder willens, auch stärker als bisher auf eine frühzeitige Beeinflussung und konstruktive Mitwirkung am europäischen Rechtsetzungsprozess hinwirken. Immer wieder zeigte es sich in der Vergangenheit, dass konstruktives Mitwirken erfolgversprechender ist als eine Verweigerungshaltung. Dies gilt insbesondere dann, wenn in Brüssel in der betreffenden Materie mit Mehrheit entschieden wird - und dies wird künftig in sehr vielen Bereichen die Regel sein. Die Beispiele der FFH-Richtlinie und der Plan-UVP zeigen, dass es in der Vergangenheit hier deutliche Versäumnisse gab.

6. Zur Zukunft der EU-Strukturförderung in der erweiterten EU

Anrede,

im Zusammenhang mit der Erweiterung und der künftigen Entwicklung der Europäischen Union ist aus regionaler Sicht auch die Frage der künftigen Ausrichtung der EU-Strukturförderung von herausragender Bedeutung. Hierzu gibt es noch keine Beschlüsse des Bundesrates. Um die Diskussion frühzeitig anzuregen, möchte ich zu diesem Themenkreis einige eigene Überlegungen vortragen.

Der Prozess der Globalisierung verschärft weltweit den Wettbewerb zwischen und innerhalb der großen Wirtschaftsräume und setzt auch die Regionen in der EU verstärkt unter Druck.

Die schwachen und schwächsten Regionen laufen dabei Gefahr, weiter ins Hintertreffen zu geraten. Die hoch entwickelten Regionen müssen gewaltige Anpassungsleistungen erbringen, um ihre Stellung in der Welt zu sichern.

Von der Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit hängt die wirtschaftliche Selbstbehauptung der EU insgesamt ab. Dem sollte die künftige Strukturförderung der EU Rechnung tragen. Die Spielräume der nationalen und der regionalen Regionalpolitik müssen m. E. erweitert werden. Es darf sich nicht der Eindruck verfestigen, dass die EU den Aufholprozess der wirtschaftlich schwächeren Regionen mit Gemeinschaftsmitteln fördert, mit Gemeinschaftssanktionen aber die Selbstbehauptung wirtschaftsstärkerer Regionen behindert, im Extremfall sogar bestraft.

In diesem Sinne sollte die Kommission unter Wahrung der Wettbewerbsregeln ihre Beihilfepolitik künftig auf eine Kontrolle von Missbrauch beschränken.

Dies ist insofern von besonderer Bedeutung, als die aktuelle Förderkulisse nach erfolgter Erweiterung der Europäischen Union in der jetzigen Form wohl kaum aufrecht erhalten werden kann. Um gleichwohl die Attraktivität der Europäischen Union und das Zusammengehörigkeitsgefühl auch dort zu bewahren, wo bisherige Förderungen enden, ist eine Neuausrichtung der vorhandenen Instrumente nötig.

Es ist - aus meiner Sicht - ein Gebot der politischen Klugheit, dass die EU auch den wirtschaftsstärkeren Regionen in Zukunft finanzielle Anreize bietet.

Wir wissen aus den Erfahrungen unserer Heimatregionen, wie wichtig es für die Akzeptanz der EU insgesamt ist, dass die Gemeinschaft Mittel beispielsweise zur Erhaltung des architektonischen Erbes oder für kulturelle Veranstaltungen zur Verfügung stellt. Hier kann mit geringem Mitteleinsatz Erhebliches für das positive Bild der EU in der Bevölkerung bewirkt werden.

Darüber hinaus ist zu erwägen, ein neues Förderziel zu definieren, das allen Regionen gleichermaßen zur Verfügung gestellt wird und gleichsam den "Kitt" für die erweiterte Europäischen Union darstellt. Denkbar wäre es, künftig die Regionen an den Binnengrenzen - Küstengrenzen inklusive - und an den Außengrenzen der Union verstärkt zu fördern.

Diese Hilfe würde dazu beitragen, die Integration der Europäischen Union dort zu vertiefen, wo die Mitgliedstaaten noch mehr als anderswo zusammenwachsen oder gute Nachbarschaft beweisen müssen.

Die Europäische Union muss von den Bürgern als ein Gemeinschaftswerk erfahren werden können, das sich um sie bemüht. Partnerschaft und Zusammenarbeit sollten den kulturellen Horizont erweitern und konkret helfen, die Herausforderungen von Wirtschaft und Gesellschaft besser zu meistern. Um all dies zu erreichen, sind neue Formen von interregionaler Kooperation und Einflussnahme wünschenswert. In Zukunft wird es notwendig sein, dass regionale Repräsentanten stärker noch als bisher eigene Kontakte zu Ansprechpartnern in anderen EU-Staaten aufbauen.

Positive Erfahrungen bei ähnlich gelagerten Problemen müssen mit Aussicht auf Erfolg fruchtbar gemacht werden. Zudem ist dies ein Weg, Einfluss auf die jeweiligen Mitgliedstaaten auszuüben, um so indirekt gleichgerichtete Prozesse in der EU in Gang zu setzen.

7. Länder und Regionen sind zur konstruktiven Mitarbeit in der EU bereit

Anrede,

die bisherigen Erfahrungen auf dem Weg zur europäischen Einheit zeigen, dass die Menschen immer wieder neu für das Ziel der europäischen Einigung gewonnen werden müssen. Je größer und komplexer Europa wird, um so notwendiger ist es, den Bürgerinnen und Bürgern neben Hinweisen auf die wirtschaftlichen Vorteile eine politische Heimat in diesem Europa zu verschaffen. Die EU sollte deshalb mehr als bisher die gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Unterschiede in den europäischen Regionen achten und schützen. Die regionale Vielfalt der EU ist ein Reichtum, den es auch in Zukunft zu bewahren gilt.

Die deutschen Länder - und auch die Regionen in den anderen EU-Staaten - werden sich für ein so ausgestaltetes Europa engagieren.

Der Bundesrat hat in der Vergangenheit seine konstruktive Haltung zur europäischen Einigung immer wieder bewiesen. Er hat 1957 im Zusammenhang mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als erstes nationales Gesetzgebungsorgan einen ständigen Ausschuss eingerichtet, der sich ausschließlich mit Europafragen befasst. Im Rahmen der parlamentarischen Beratung der Einheitlichen Europäischen Akte 1987 wurde eine spezielle Europakammer geschaffen, die wichtige europäische Angelegenheiten in Eilfällen für das Plenum insgesamt beschließen kann. Nach Maastricht wurde die Europakammer im Grundgesetz verankert.

Alle Änderungen der europäischen Verträge - die Einheitliche Europäische Akte 1987, der Vertrag von Maastricht 1993 und zuletzt der Vertrag von Amsterdam 1997 - wurden von den Ländern im Bundesrat einstimmig beschlossen. Ich halte es für wesentlich, dass die deutschen Länder - bei allen Unterschieden in Sachfragen - in Grundsatzangelegenheiten der Europapolitik immer wieder zu einer gemeinsamen Haltung gefunden haben.

Der Bundesrat wird auch die Ergebnisse des Europäischen Rates von Nizza in einem konstruktiven Geist zügig prüfen. Ich bin zuversichtlich: Auch der Vertrag von Nizza wird in Deutschland nicht scheitern.

Zugleich möchte ich betonen: Die Zeit ist reif für eine umfassende Diskussion über die Zukunft Europas. Es ist das besondere Verdienst der Länder, dass sie das Erfordernis einer, klareren Kompetenzabgrenzung zwischen EU und Mitgliedstaaten und Regionen früh erkannt und in die Diskussion eingebracht haben. Wir werden uns dafür einsetzen, dass beim bevorstehenden EU-Gipfel in Nizza die Tür für eine neue Reformrunde aufgestoßen wird, bei der es um die künftige Ausgestaltung der Europäischen Union gehen wird.

Am Ende des Weges könnte eine neue Art von europäischer Identität ohne Verlust nationaler Identität und des von vielen Bürgerinnen und Bürgern heute zunehmend vermissten Heimatgefühls stehen. Nur so werden sie bereit sein, den europäischen Weg mitzugehen, zu dem es aus meiner Sicht keine Alternative gibt.

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