15.12.2006

des Präsidenten des Bundesrates, Ministerpräsidenten Dr. Harald Ringstorff, am Freitag, 15. Dezember 2006, in Berlin Ansprache zu Ehren der Sinti und Roma

Sperrfrist: Ende der Rede
Es gilt das gesprochene Wort!

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
wir gedenken heute der Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma. Unsere Gedanken gelten auch jenen, die - selbst wenn sie die Schrecken überlebt haben - bis heute schwer tragen an dem zugefügten Schmerz und dem Verlust ihres Vertrauens in die Menschlichkeit.

Das Leid der Verfolgten und Ermordeten, der Überlebenden und Hinterbliebenen verpflichtet uns dazu, immer wieder neu zu erinnern, immer wieder neu zu warnen und achtsam zu sein, damit das, was damals geschah, nie wieder geschieht. Dem ist auch diese Gedenkveranstaltung gewidmet.

Der 16. Dezember 1942, der Tag, an dem Heinrich Himmler den so genannten Auschwitz-Erlasses unterzeichnete und damit die Verschleppung und Ermordung deutscher und europäischer Sinti und Roma besiegelte, muss im öffentlichen Bewusstsein der Deutschen und der Europäer verankert sein. Dazu wollen wir beitragen.

Die Menschen, die unter dem Unrecht des NS-Regimes zu leiden hatten, haben einen Anspruch darauf, dass ihre Geschichte nicht vergessen, verdrängt oder zu den Akten gelegt wird. Die Würdigung der Opfer ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit für jeden Einzelnen, sondern auch eine Anerkennung der Tatsache, dass das Eintreten für Menschenrechte und Menschenwürde zu den Grundlagen der Demokratie zählt.

Ich begrüße aus diesem Anlass unter unseren Gästen Überlebende der Verfolgung, Familienangehörige von Opfern sowie Mitglieder der Vertreterorganisationen der Sinti und Roma. Es verdient besonderen Respekt, dass viele unter Ihnen trotz des erlebten Grauens die Kraft fanden und finden, an einer selbstbewussten Vertretung als nationale Minderheit mitzuarbeiten. Ich begrüße Sie sehr herzlich, meine Damen und Herren, und danke Ihnen für Ihr Kommen.

Wir erinnern uns heute der unbegreiflichen Barbarei, die vor noch nicht einmal einem Menschenalter in Deutschland und von Deutschland ausgehend in ganz Europa wütete. Wir erinnern an die schätzungsweise 500.000 Menschen, die als so genannte Zigeuner verfolgt und dem verbrecherischen Rassenwahn des NS-Gewaltregimes zum Opfer fielen - ausgegrenzt, ihrer Rechte beraubt, unvorstellbar gedemütigt, um Hab und Gut gebracht, in die Vernichtungslager deportiert, gequält und schließlich ermordet. Viele starben grausam an medizinischen Experimenten. Die Sinti und Roma fielen demselben planmäßig ins Werk gesetzten nationalsozialistischen Völkermord zum Opfer wie die europäischen Juden. Seinen letzten Schritt zur so genannten Endlösung mit dem "Auschwitz-Erlass" hatte Himmler schon am 8. Dezember 1938 mit dem Erlass zur „grundlegenden Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse heraus“ angekündigt. Bereits am 3. Januar 1936 verfügte Reichsinnenminister Frick, dass die „Nürnberger Rassegesetze“ genauso auf die Sinti und Roma wie auf die Juden anzuwenden seien. Mit derselben menschenverachtenden Konsequenz und Brutalität wurden sie unschuldig verfolgt und systematisch vernichtet.

Insgesamt starben, so wird von den Historikern geschätzt, eine halbe Million Sinti und Roma. Doch nicht allein die große Zahl - jedes einzelne Schicksal - dokumentiert das Ungeheuerliche: So schrieb die jüdische Ärztin Lucie Adelsberger, ich zitiere: „Am nächsten Morgen ... war das Zigeunerlager leer. Da kamen plötzlich zwei Kinder von drei und fünf Jahren aus ihrem Block, die, in ihre Decken eingemummelt, alles überschlafen hatten. Die beiden Kleinen hielten einander an der Hand, weinend ob ihrer Verlassenheit. Sie wurden nachgeliefert.“

Rund 23.000 Sinti und Roma aus elf Ländern Europas, ganze Familien vom Säugling bis zur Greisin, waren in Auschwitz-Birkenau in einem elenden Barackenlager zusammengepfercht. Fast alle starben. Am 2. August 1944 fand die vorausgegangene Verfolgung, Entwürdigung und Internierung, die biologische Katalogisierung und die Deportation der Sinti und Roma im so genannten Zigeunerlager Auschwitz-Birkenau einen furchtbaren Höhepunkt. Doch es war nur eine - wenn auch die fürchterlichste - Todesstätte von vielen.

Auf dem Balkan und hinter der Ostfront fielen ganze Dörfer Massenerschießungen und Vernichtung mit mobilen Vergasungswagen der SS-Einsatzgruppen anheim. Schon im Sommer 1942 schickte die deutsche Militärverwaltung im besetzten Serbien die Vergasungswagen mit der Meldung nach Berlin zurück, dass, ich zitiere: "Die Judenfrage und die Zigeunerfrage gelöst sei".

Mit kühler Berechnung, einem funktionierenden bürokratischen Apparat, einer fanatischen Ideologie, die Nicht-Arier aus der Gemeinschaft der Menschen ausschloss, und mit der offenen oder schweigenden Duldung der Mehrheit der Bevölkerung wurde fast eine ganze Generation der Sinti und Roma ausgelöscht. Ein Verlust, den niemand beschreiben und auch nicht wiedergutmachen kann. Nur die wenigsten kamen aus den Lagern zurück. Und die, die zurückkamen, waren und sind für ihr ganzes Leben gezeichnet. Gezeichnet von einer Vergangenheit, die weder zu verarbeiten, geschweige denn zu bewältigen ist. Das Völkermordverbrechen der Nationalsozialisten ist in seinem unvorstellbaren Ausmaß ein historischer Bruch, der sich tief in das kollektive Gedächtnis der Sinti und Roma eingegraben hat und die Identität und das Bewusstsein auch der heutigen Generation prägt.

Lange, viel zu lange, wurde in der Bundesrepublik Deutschland dieser systematische und brutale Völkermord an den deutschen und europäischen Sinti und Roma verdrängt, bagatellisiert oder geleugnet. Erst seit den 80er Jahren rücken die Verbrechen, die unter dem Nationalsozialismus an ihnen begangen wurden, mehr und mehr in das öffentliche Bewusstsein. Entscheidenden Anteil an diesem Bewusstseinswandel haben die Überlebenden, aber auch die Vertreterorganisationen wie der Zentralrat deutscher Sinti und Roma, auf dessen Initiative hin dieser Gedenktag seit 1994 jährlich im Bundesrat stattfindet. Ich hoffe, dass auch die Errichtung des geplanten Mahnmals hier in Berlin möglichst bald beginnen kann.

Meine Damen und Herren,
bei einer Gedenkveranstaltung wie dieser geht es nicht nur um die Vergangenheit, sondern auch um die daraus erwachsene Verantwortung in der Gegenwart und für die Zukunft.

Gerade weil wir uns die Brutalität der Täter und die Leiden der Opfer kaum vorstellen können, gerade deshalb müssen wir gemeinsam immer neu nach einer Sprache gegen das Vergessen suchen. Was nicht erinnert wird, ist verloren, doch nur Erinnerung kann die Wiederholung der Barbareien von gestern verhindern helfen.

Begegnung, Information und Aufklärung, Gespräche mit Zeitzeugen, die Fragen der jungen Leute – all das gibt uns die Möglichkeit dazu. Es ist wichtig, den Faden der Überlieferung, der Weitergabe von Erfahrungen an die jüngere Generation nicht abreißen zu lassen. Es müssen – solange es geht – Möglichkeiten geschaffen werden, damit Zeitzeugen mit Jugendlichen ins Gespräch kommen können.

Ich denke an die Worte eines jungen Mädchens aus Polen, die bei der Einweihung der deutsch-polnischen Jugendbegegnungsstätte auf dem Golm auf der Insel Usedom sagte, dass sie anfange zu verstehen, was ihre Großmutter ihr schon oft gesagt hatte, ich zitiere: "Nur wenn Du Dir bewusst bist, was möglich war, kannst Du mithelfen, dafür zu sorgen, dass es nie wieder geschehen kann."

Politisches Verständnis und Urteilskraft sind ohne Kenntnis der Geschichte, ohne Begreifen der Zusammenhänge nicht möglich. Menschen, die ihre Geschichte kennen, haben die Möglichkeit, Warnzeichen, die auf neue Gefahren hindeuten, früher zu erkennen und sich Fehlentwicklungen entschiedener entgegenzustellen als diejenigen, die von den - auch durch die Gleichgültigkeit zu vieler ihrer Vorfahren verursachten - Katastrophen nichts wissen. Es heißt: Aus der Geschichte können wir lernen, und zwar verstehen lernen. Je mehr wir von der Vergangenheit wissen, desto mehr erfahren wir auch über den Boden, auf dem wir heute stehen, und zwar längst noch nicht so sicher und selbstverständlich, wie wir mitunter glauben. Das zeigt die immer wieder aufflackernde Neigung von Menschen, den rassistischen, menschenverachtenden Parolen rechtsextremistischer Vereinfacher auf den Leim zu gehen. Rechtsextremistische Gruppen stoßen zunehmend auf Akzeptanz in Teilen der Gesellschaft. Im Blick darauf gibt es besonderen Anlass zur Aufmerksamkeit und zu verstärktem Engagement.
Als Demokraten müssen wir auch und vor allem die politische Auseinandersetzung mit den Rechtsextremen suchen. Wir dürfen diesen Leuten unsere Sprache und unsere Plätze nicht überlassen! Wegschauen, verharmlosen, schweigen - all das dürfen wir Demokraten nicht! Deshalb warne ich dringend davor, dass rechtsextremistische Aktivitäten verharmlost werden, dass es Neonazis gelingen kann, auf gesellschaftliche Themen einzuwirken. Rechtsextremisten sind eine Gefahr für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Sie säen Neid, Hass, Verachtung und rassistischen Dünkel. Sie instrumentalisieren und schüren Ängste. Das dürfen wir nicht zulassen!

Deshalb gilt mein besonderer Dank an dieser Stelle den vielen tausend Vereinen, Verbänden, Kultureinrichtungen und Bürgerinitiativen in unseren Bundesländern, die sich gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Menschenverachtung engagieren. Sie wissen: Jeder kann seinen Beitrag leisten. Niemand darf sich ausnehmen, wenn es darum geht, Diskriminierung, Einschüchterung und Gewalt in unserem Land den Boden zu entziehen!

Wer versteht, wie schnell sich in einem totalitären System Tür und Tor öffnen können für staatliches Unrecht, für Willkür und Terror, der erkennt, welche Bedeutung eine unabhängige Justiz im demokratischen Rechtsstaat hat. Wie wichtig und wertvoll klare Gewaltenteilung, Rechtssicherheit und eine demokratische Rechtsordnung sind.

Wir müssen uns und unseren jungen Menschen immer wieder bewusst machen, dass Demokratie verletzlich ist, dass sie vor allem Gleichgültigkeit nicht verträgt. Wir müssen uns und der jungen Generation immer wieder die eigene politische Verantwortung, die eigene politische Gestaltungskraft in der Demokratie deutlich machen.

Demokratie muss gelebt werden! Demokratie verlangt Beteiligung! Dazu gehören politisch informierte, kritische, couragierte und selbstbewusste Menschen. Und dazu gehört eine gesellschaftliche Kultur, die solche Menschen fördert. Hier ist jede unserer Landesregierungen gefordert. In jedem unserer Bundesländer gibt es eine Fülle engagierter Institutionen, Projekte und Initiativen, die sich dieser Aufgabe stellen. Zu verstärkten Bemühungen in der politischen Aufklärungs- und Bildungsarbeit vor Ort gibt es keine Alternative:

Es ist wahr, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Aber es ist ebenso wahr, dass die Geschichte der Boden für die Gegenwart ist und dass der Umgang mit der Vergangenheit zum Fundament für die Zukunft wird. Und weil wir das wissen, haben wir aus unserer Geschichte die Verantwortung, heute gegen Unrecht und Unmenschlichkeit zu kämpfen, wo immer sie sich zeigen. Dazu kann jeder seinen Beitrag leisten! Und wir haben die Aufgabe, unserer jungen Generation diese Verantwortung als ihre eigene Verantwortung zu vermitteln.

Meine Damen und Herren,
wir verneigen uns vor den ermordeten Sinti und Roma. Ich bitte Sie, sich zum ehrenden Gedenken an alle Kinder, Frauen und Männer, die Opfer des Rassenwahns, der Gewalt und des Unrechts der Nationalsozialisten geworden sind, von Ihren Plätzen zu erheben.

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