Es gilt das gesprochene Wort.
Meine Damen und Herren,
der Wechsel in der Präsidentschaft des Bundesrates folgt bekanntermaßen einem festgelegten jährlichen Turnus. Also alles nur demokratische Routine? Ich denke, Sie alle können nachvollziehen, dass ich heute hier nicht Routine, sondern Stolz empfinde, auf Zeit an einer so herausgehobenen und wichtigen Position unserem Gemeinwesen und der Gemeinschaft der Länder dienen zu dürfen.
Ich bin überzeugt: die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland hat sich in Jahrzehnten trotz vieler Herausforderungen bewährt. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben den Bundesrat mit Bedacht als Verfassungsorgan mit großem politischem Gewicht geschaffen. Die Bundesratspräsidentschaft ist für mich Ehre und Verpflichtung zugleich - eine Herausforderung, der ich mich mit Engagement und Pflichtbewusstsein widmen werde.
Ich verbinde das mit einem herzlichen Dank an meinen Vorgänger Jens Böhrnsen. Mit - ich möchte fast sagen - typisch hanseatischer Klarheit und Geradlinigkeit hat er es verstanden, die gute Tradition dieses Hauses zu befördern, Politik immer an der Sache zu orientieren und vom Ergebnis her zu denken. Zudem ist es ihm mit seiner Bereitschaft zum Ausgleich immer wieder gelungen, widerstreitende Interessen zusammenzuführen. Damit sicherte er dem Bundesrat jene wichtige Rolle, die ihm in unserem föderalen Staatsaufbau gebührt. Das hat er im Frühjahr eindrucksvoll unterstrichen, als er für einige Wochen die Vertretung des Bundespräsidenten übernommen hat.
Als er hier an dieser Stelle vor einem Jahr seine Antrittsrede hielt, da sagte er etwas, das heute mindestens genauso aktuell ist wie damals. Ich zitiere ihn: "Für mich gehören Vertrauen und Glaubwürdigkeit zum unersetzbaren Handwerkszeug, damit Politik und "die Politiker" wieder mehr Zugang zu den Bürgerinnen und Bürgern finden, um diese zum Mitdenken und Mitmachen zu ermutigen."
Damit schnitt er eine Frage an, die auch mich sehr bewegt: Wie können wir der zunehmenden Distanz zwischen Bürgern und Politik entgegentreten, wie sie sich zum Beispiel in den Protesten aus der Mitte der Gesellschaft gegen große Infrastrukturprojekte kristallisiert?
Aus Betroffenen Beteiligte machen
Wir, die politische Verantwortung tragen, müssen gemeinsam mit den Bürgern einen neuen Konsens darüber entwickeln, wie wir in Zukunft leben wollen. Das Ziel ist für mich klar: Wir müssen von Anfang an aus Betroffenen Beteiligte machen. Das entmündigt unser politisches System nicht, sondern stärkt im Gegenteil unsere Demokratie. Umso häufiger uns dies auf regionaler Ebene gelingt, desto besser.
Die Herausforderungen liegen auf der Hand, nur einige Beispiele: Wie sichern wir ein friedliches Zusammenleben aller Bürgerinnen und Bürger, ganz gleich woher sie kommen? Wie schaffen wir es, dass die Alterung unserer Gesellschaft für uns alle ein Gewinn wird? Wie stärken wir gleichzeitig den Klima- und Umweltschutz auf der einen und die industrielle Basis, das sage ich auch als Politikerin aus Nordrhein-Westfalen, auf der anderen Seite?
Die Bürgerinnen und Bürger suchen nach Antworten. Dabei erwarten sie von uns eine Politik, die Respekt vor ihnen zeigt. Sie wollen mehr Dialog statt Distanz, mehr Miteinander statt Gegeneinander.
Als Bundesratspräsidentin möchte ich einen Beitrag dazu leisten, dass das Vertrauen der Menschen in die Politik wieder wächst. Johannes Rau pflegte zu sagen, ich zitiere ihn: "Tun, was man sagt und sagen, was man tut". Daran möchte ich mich halten. In Nordrhein-Westfalen bin ich als Ministerpräsidentin im Besonderen darauf angewiesen, dass wir miteinander reden, Entscheidungen gut begründen, nicht über die Köpfe der Menschen hinweg entscheiden. Nur wenn wir dies beherzigen, können wir es schaffen, dass Politikern wieder mehr Vertrauen entgegengebracht wird.
Die Sorgen der Kommunen ernst nehmen
Meine Damen und Herren,
ich sagte es schon: Es ist gute Tradition in diesem Hause, alle politischen Vorhaben ruhig und sachlich anzugehen. Umso wichtiger ist es, dass wir in der Sache den Menschen nahe sind.
Das sage ich zum Beispiel mit Blick auf die schwierige finanzielle Lage der Kommunen. In ihrer Stadt und ihrer Gemeinde erfahren die Menschen hautnah, ob sich die Lebensverhältnisse verbessern oder verschlechtern. Hier wird besonders deutlich, ob Politik gestalten oder nur Mängel verwalten kann.
Nicht erst seit der Finanzkrise erleben wir, dass viele Kommunen kaum noch handlungsfähig sind. Viele notwendige Investitionen werden seit Jahren zurückgestellt. Damit dürfen wir unsere Städte und Gemeinden nicht allein lassen. Die Länder können und sollten sich auch hier im Bundesrat noch stärker zum Sprachrohr der Kommunen machen.
Es ist gut, dass sich immer mehr die Erkenntnis durchsetzt, dass wir auf allen Ebenen unseres föderalen Systems für die Lebensverhältnisse in den Kommunen Verantwortung tragen. Die Gemeindefinanzreformkommission wird hier, so hoffe ich, Zeichen setzen. Eine Konsolidierung der Finanzen des Bundes auf Kosten von Kommunen und Ländern darf es nicht geben. Der Bund muss sich dauerhaft und angemessen an den auf Bundesrecht beruhenden Kosten der Sozialleistungen beteiligen. Mit diesem Thema hat sich der Bundesrat seit vielen Jahren immer wieder befassen müssen. Es hat uns so manches nicht einfache Vermittlungsverfahren beschert und ich befürchte, dass sich daran so bald nichts ändern wird.
Auch die Initiativen der Europäischen Union haben wir in diesem Hause konstruktiv und kritisch zu begleiten und auf ihre praktischen Auswirkungen hin abzuklopfen. Im nächsten Jahr werden wir uns mit EU-Initiativen von großer Tragweite zu befassen haben, etwa mit den Maßnahmenpaketen zur Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, mit der europäischen Energie- und Klimapolitik bis 2050 oder mit der neuen Binnenmarktstrategie der Europäischen Union. Mit diesen Initiativen setzt die EU die richtigen Themen. Die Wirtschafts- und Finanzkrise und das Scheitern des Klimagipfels in Kopenhagen vor einem Jahr haben deutlich aufgezeigt, wie notwendig gemeinsames Handeln in Europa ist.
Der Bundesrat wird daher seine Integrationsverantwortung wahrnehmen und seine mit dem Lissabon-Vertrag ausgeweiteten Mitspracherechte im Interesse der Bürgerinnen und Bürger aktiv nutzen.
Mehr Vorsorge statt Nachsorge
Eine weitere Frage treibt mich um: Wie können wir unsere Ziele erreichen, den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stärken, die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren und zugleich unsere wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen?
Mit rabiater Sparpolitik auf Kosten der Zukunft werden wir hier nicht weit kommen. Carl Christian von Weizsäcker hat dazu neulich in einem Essay in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung etwas Kluges geschrieben. Ich zitiere ihn: "Eine Finanzpolitik extremer Sparsamkeit wird zu Kürzungen der öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur führen. Die von der öffentlichen Hand zu verantwortenden Engpässe beim Ablauf des normalen wirtschaftlichen und sozialen Lebens werden immer schmerzlicher - auf Kosten künftigen Wirtschaftswachstums und künftiger Steuereinnahmen." (FAZ 5.6.2010)
Von Weizsäcker hat recht. Wir brauchen eine Politik, die den oft gesagten Satz "Vorsorge ist besser als Nachsorge" mehr beherzigt und stärker auf Prävention statt Reparatur setzt. Wer frühzeitig in gute Bildung investiert, in mehr Kinder- und Ganztagsbetreuung, in passgenaue Hilfen für Alleinerziehende und Familien und in eine vorsorgende Sozialpolitik, der sorgt am besten für die Zukunft vor.
Auch Integrationspolitik ist vorsorgende Politik. Wenn wir Menschen mit Zuwanderungsgeschichte die Chance geben, sich in unsere Gesellschaft einzubringen, dann sichern wir den sozialen Frieden. Und zugleich tun wir etwas gegen den Fachkräftemangel, der unsere Wirtschaft schon heute in vielen Bereichen hemmt.
All dies erfordert eine große Kraftanstrengung. Gezielte vorbeugende Politik ist eine Aufgabe, der sich die Städte und Gemeinden, die Länder und der Bund gemeinsam widmen müssen. Und dazu sind nicht nur strukturelle Veränderungen bei der finanziellen Ausstattung der Kommunen erforderlich, sondern gerade auch in der Bildungspolitik. Lassen Sie uns gemeinsam dafür werben.
Meine Damen und Herren,
ich freue mich, dass ich für ein Jahr Ihre Präsidentin sein darf.
In den Medien hat ja schon allein das Faktum, dass nun zum ersten Mal in der langen Geschichte des Bundesrates eine Frau dieses Amt übernimmt, beachtliche Aufmerksamkeit gefunden. Vielleicht trägt dies ein wenig dazu bei, dass sich noch mehr Menschen für unsere Arbeit interessieren.
Doch es ist nicht von zentraler Bedeutung, ob die Politik von einem Mann oder einer Frau an der Spitze vertreten wird. Entscheidend ist, dass wir im demokratischen Wettbewerb darum ringen, die richtige Politik zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger zu machen.
Vielen Dank.
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