19.12.2013

in der 918. Sitzung des Bundesrates am 19. Dezember 2013 Ansprache von Bundesratspräsident Stephan Weil

Ansprache von Bundesratspräsident Stephan Weil in der Gedenkstunde zu Ehren der Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti, Roma und Jenischen


- Es gilt das gesprochene Wort -


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich eröffne die 918. Sitzung des Bundesrates.

Wir gedenken heute der Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma sowie an der Gruppe der Jenischen.

Hunderttausende Sinti und Roma sowie Angehörige der Jenischen litten im Nationalsozialismus unter Ausgrenzung und Verfolgung. Dies und ihre systematische Ermordung wurden damals durch eine rassistische Ideologie begründet.

80 Jahre nach der Machtübertragung auf Hitler erinnern wir uns heute an die Anfänge des Terrorsystems mit zahllosen Folterorten und den ersten Konzentrationslagern. Die neuen Machthaber schafften die Errungenschaften der Aufklärung vergangener Jahrhunderte mit einem Federstreich ab: das Recht auf Freiheit, das Recht auf Äußerung der eigenen Meinung und den Schutz aller Bürgerinnen und Bürger vor Willkür.

Das Jahr 1933 war im Rückblick betrachtet bereits viel mehr als allein der Auftakt zu grenzenloser Gewalt gegen politische Gegner des Regimes. Immer mehr Menschen wurden wegen ihrer Einstellungen, ihres Verhaltens oder ihrer Herkunft in die Verfolgungspolitik des Nationalsozialismus einbezogen.

Sehr früh waren darunter auch schon Sinti, Roma und Jenische. Angehörige dieser Bevölkerungsgruppen wurden von den Behörden erfasst, von Wissenschaftlern nach rassistischen Kategorien behandelt, von der Polizei in Lagern zusammengefasst und schließlich von 1936 an in Konzentrationslagern wie Dachau oder Buchenwald eingepfercht und ermordet.

Schritt für Schritt wurde die Verfolgung radikaler. Am 16. Dezember 1942 ordnete Heinrich Himmler mit dem sogenannten "Auschwitz-Erlass" die Deportation aller im Deutschen Reich lebenden Sinti und Roma nach Auschwitz an. Das bedeutete den Übergang zur systematischen Ermordung. Weitere Befehle veranlassten die Deportation der Sinti und Roma vor allem aus westeuropäischen Gebieten. In Osteuropa wurden zehntausende Roma Opfer von Erschießungen und Massakern.

Besonders schockiert uns, wie sehr sich die Nationalsozialisten dabei auf traditionelle Vorurteile der Verantwortlichen, der Behörden und der Bevölkerung stützen konnten. Sie hatten viele Helfer in Deutschland und schließlich in ganz Europa, die für die systematische Zerstörung von Familien, Gemeinschaften und Lebenszusammenhängen verantwortlich waren.

Ausgrenzung und Vertreibung geschahen wie bei den jüdischen Verfolgten vor aller Augen und unter aktiver Mitwirkung von Verwaltung, Polizei, Wissenschaftlern und Ärzten. Keine Familie blieb verschont. Die Würde der verfolgten Sinti, Roma und Jenischen galt in dieser Zeit nichts mehr, ebenso wenig ihre Rechte.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir dürfen es nicht zulassen, dass sich so etwas wiederholt. Wir müssen verhindern, dass jemals wieder auch aus der Mitte der Gesellschaft Menschen nur nach ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, Religion oder Herkunft beurteilt werden. Solch ein mörderischer Hass, der zum Völkermord an den Sinti und Roma führte, darf nie wieder entstehen. Darum ist aktive Erinnerungsarbeit unverzichtbar, mit der wir ein Bewusstsein für die unantastbare Würde des Menschen aufrechterhalten oder schaffen.

Die aktive Erinnerung muss auch die Jahre nach 1945 einbeziehen; denn Ablehnung, Hass und Ausgrenzung gegenüber den Sinti und Roma sowie der Gruppe der Jenischen endeten nicht 1945. Das Schicksal der verfolgten und ermordeten Sinti, Roma und Jenischen blieb weitgehend unbeachtet. Sie waren als gleichwertige Bevölkerungsgruppe nach wie vor wenig anerkannt.

Erst 1979 machte zum ersten Mal eine Kundgebung in der Gedenkstätte Bergen-Belsen auf den Völkermord an den Sinti und Roma europaweit aufmerksam. Die damalige Präsidentin des Europäischen Parlaments und Überlebende von Bergen-Belsen, Simone Veil, bezeichnete den Kampf um die Anerkennung des Schicksals der Sinti und Roma als "Kampf für die Menschenrechte". Kurz darauf erkannte die Bundesregierung erstmals den Völkermord an den Sinti und Roma offiziell an.

Mein aufrichtiger Respekt gilt an dieser Stelle besonders den Verbänden der Sinti und Roma sowie der Jenischen und anderer Fahrender. Ich freue mich sehr, dass wir ihre Vertreterinnen und Vertreter heute unter uns begrüßen können. Sie haben sich über Jahrzehnte hinweg für die Erinnerung an den Völkermord eingesetzt. Sie haben den unzähligen Toten eine Stimme gegeben. Ihr Einsatz ist ein großes Vorbild für bürgerschaftliches Engagement, auf das unsere Demokratie angewiesen ist.

Auf Initiative des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma konnte 2012 nach langen Auseinandersetzungen das "Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas" der Öffentlichkeit übergeben werden. Im Zentrum Berlins mahnt es uns zum Innehalten. Neben vielen anderen Gedenkorten erinnert es uns an einen Teil unserer Geschichte, auf den wir nicht stolz sein können, den wir vielmehr als kollektives Versagen einer ganzen Nation wahrnehmen müssen.

Wir müssen die Erinnerung an den Völkermord an Sinti, Roma und Jenischen wachhalten. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, dass wir diesen Völkermord niemals vergessen! Dafür ist uns besonders wichtig, was 2009 die Präsidenten der internationalen Verbände der KZ-Häftlinge in ihrem Vermächtnis festgehalten haben. Dort heißt es:

Die letzten Augenzeugen wenden sich an Deutschland, an alle europäischen Staaten und die internationale Gemeinschaft, die menschliche Gabe der Erinnerung und des Gedenkens auch in der Zukunft zu bewahren und zu würdigen. Wir bitten die jungen Menschen, unseren Kampf gegen die Nazi-Ideologie und für eine gerechte, friedliche und tolerante Welt fortzuführen, eine Welt, in der Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus keinen Platz haben sollen.

Meine Damen und Herren, wir sind uns bewusst, wie weit der Weg noch ist, um diese Welt zu erreichen. Das gilt besonders für die Situation der Sinti und Roma in weiten Teilen Europas. Mit Besorgnis beobachten wir die Zunahme von Antisemitismus und Antiziganismus.

Gerade deshalb ist uns die Mahnung der Überlebenden eine dauernde Verpflichtung, nicht zu vergessen, was vor 1945 geschehen ist, und nicht zu schweigen, wenn heute Menschen Unrecht geschieht und sie auf Grund von Vorurteilen und Rassismus ausgegrenzt werden. Darum möchte ich besonders den Überlebenden des Völkermords, die heute unter uns sind, versichern: Wir werden alles dafür tun, dass aus der Erinnerung an Verfolgung und Völkermord im Nationalsozialismus die notwendige Wachsamkeit und Sensibilität für die Bewahrung der Rechte aller Menschen erwächst. Nur dann kann unsere Demokratie heute und in Zukunft auch Ihnen eine verlässliche und gemeinsame Heimat trotz der erlittenen Verfolgung bieten. An diesem Anspruch müssen wir unsere Politik messen lassen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie nun, sich von Ihren Plätzen zu erheben, um der Opfer nationalsozialistischer Gewalt unter den Sinti und Roma, den Angehörigen der eigenständigen Gruppe der Jenischen und anderer Fahrender zu gedenken.

Ich danke Ihnen.

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