03.10.2022

Pressemitteilung Rede von Bundesratspräsident Bodo Ramelow beim Festakt zum 32. Jahrestag der Deutschen Einheit

Foto: Bodo Ramelow

Bundesratspräsident Bodo Ramelow bei seiner Festaktrede

© Jan Woitas | dpa

Bundesratspräsident Bodo Ramelow warb beim zentralen Festakt zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2022 in Erfurt für ein Miteinander der Deutschen auf Augenhöhe und eine Einheit in Vielfalt. Nur durch Gemeinsamkeit und Solidarität könnten die Krisen und Herausforderungen gemeistert werden.

Ort: Theater Erfurt
- Es gilt das gesprochene Wort -

Anrede,
ich freue mich sehr darüber, Sie in Erfurt begrüßen zu dürfen.
Sehr herzlich begrüße ich an dieser Stelle auch den südkoreanischen Minister für Vereinigung. Exzellenz, Sie sind ein gern gesehener Gast bei unserer Einheitsfeier!

Das heutige Fest der Einheit ist der offizielle Höhepunkt der Thüringer Bundesratspräsidentschaft in diesem Jahr. Zusammen feiern wir 32 Jahre deutsche Einheit – und damit die Grundpfeiler unseres föderalen Systems: die deutschen Länder in ihrer Vielfalt.

Wir begehen diesen Tag in einer Zeit, in der im Osten unseres Kontinents – in der Ukraine – Menschen um ihre Freiheit und ihre Einheit kämpfen müssen. Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine ist verbrecherisch, er ist imperialistisch und er ist durch nichts und ich betone: durch rein gar nichts zu rechtfertigen.
Die Worte Butscha und Irpin stehen dabei stellvertretend für Kriegsverbrechen – in einer Dimension, für die es fast schon anmaßend wirkt, Worte finden zu wollen. Putin tritt die Menschenwürde jeden Tag mit Füßen.
Deshalb möchte ich von hier aus noch einmal die Botschaft senden: Wir stehen solidarisch an der Seite der Ukraine. Und wir vergessen auch an einem Tag wie heute nicht: Wenn wir es ernst meinen mit der Demokratie und mit der Unveräußerlichkeit der Menschenrechte, müssen wir helfen, wo wir können. Das ist ein humaner Imperativ.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

dass ich heute hier stehen kann, ist auch ein Ergebnis der Deutschen Einheit. Ich spreche zu Ihnen als jemand, dessen Biographie zur einen Hälfte im Westen Deutschlands geprägt wurde und fast zur gesamten zweiten Hälfte im Osten – mit all den Transformationserfahrungen nach dem Ende der DDR.

Insgesamt hat der Osten nach harten Kriterien gemessen einen unglaublich guten Entwicklungsprozess genommen. Wirtschaftskraft, Wirtschaftsentwicklung – wenn man heute die ehemaligen sozialistischen Staaten im RGW-Wirtschaftsraum vergleicht, sind wir ganz vorne dran. Thüringen ist dabei sogar noch ein Stück stärker.

Und dennoch: das Ost-West-Verhältnis ist bis heute keineswegs spannungsfrei. Das hat auch mit Verletzungen, Enttäuschungen und Missverständnissen auf beiden Seiten zu tun, die viel zu selten in den Blick genommen werden. Und wir brauchen viel häufiger konkrete Ideen, wie wir zu einem Miteinander auf Augenhöhe kommen können.

Ob Corona-Pandemie oder Energieknappheit – die Krisen der Zeit zeigen, was vorher schon nicht gestimmt hat, und rücken die bestehenden Differenzen ins Licht der Scheinwerfer. Auf diese Punkte müssen wir unseren Blick richten.

Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Oktober 1990 war ein durchaus widersprüchliches Ereignis: Zum einen erstritten sich die Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland elementare Grundrechte wie Meinungs-, Demonstrations- und Reisefreiheit. Zum anderen führte die wirtschaftliche Transformation zu enormen sozialen Verwerfungen für die Bevölkerung in den „neuen Ländern“.

Ich habe damals als Gewerkschafter den erschütternden, aber schließlich vergeblichen Arbeitskampf der Bergarbeiter im Kali-Werk Bischofferode in Nordthüringen miterlebt. Doch "Bischofferode" war überall. Viele verloren ihren Arbeitsplatz und mussten sich beruflich neu orientieren. Neben Geschichten von erfolgreichen Aufbrüchen stehen Erzählungen von Menschen, für die die Einheit einen sozialen Abstieg bedeutete – für manche von ihnen auf sehr lange Zeit.
Sie hatten nicht zuletzt den berechtigten Eindruck, dass ihr Leben und ihre Arbeitsleistungen in der DDR keinen Wert mehr hatten. Das Wort „Treuhand“ steht dabei stellvertretend für eine Politik, die viel zu oft von „Maß und Mitte“ redete, in der Praxis aber nicht selten wie die sprichwörtliche Axt im Walde agierte und ganze Industriezweige – um im Jargon der damaligen Zeit zu bleiben – „abwickelte“.

Ich erinnere mich noch gut an die Rede der Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Tag der Deutschen Einheit im vergangenen Jahr in Halle. Sie sprach davon, wie sie immer noch als „angelernte Bundesdeutsche“ wahrgenommen und ihre DDR-Biografie als Ballast gesehen werde.
Und sie stellte die Frage, ob „Menschen ihrer Generation und Herkunft aus der DDR die Zugehörigkeit zu unserem wiedervereinigten Land auch nach drei Jahrzehnten Deutscher Einheit gleichsam immer wieder neu beweisen“ müssten.
Sie hat damit nicht nur vielen Ostdeutschen, sondern auch mir aus der Seele gesprochen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

die Stärke, die wir heute haben, ist aus gemeinsamer Solidarität erwachsen. Eine Solidarität, die verbunden ist mit der Unterschiedlichkeit, die wir uns auch gestattet haben. Das hat uns sogar sehr viel geholfen.
Wie viele hunderttausend junge Menschen – gut ausgebildet und hochmotiviert – sind aus dem Osten in den Westen gegangen?
Wie viel Stabilität hat dieser Wanderungsprozess Gesamtdeutschland gebracht? Wie viele Produkte für die Zulieferung kommen seit über 30 Jahren aus den neuen Ländern? Der Gewinn aber wird in den Firmenzentralen abgerechnet, die nicht im Osten Deutschlands angesiedelt sind.

Vergleichen wir Bayern oder Baden-Württemberg mit Thüringen, kann Thüringen scheinbar nur verlieren. Schauen wir aber genauer hin, dann sehen wir, dass hier 60 Weltmarktführer ansässig sind, die als kleine und mittelständische Betriebe in ihren Märkten auf der ganzen Welt bekannt sind. Dann sehen wir einen großen Erfolg, von dem nur leider fast niemand in der Nachbarschaft weiß.
Durch die Einheit ist der Osten Deutschlands auch Teil der europäischen Gemeinschaft geworden. Ohne sie könnten wir unsere Märkte nicht in dem Maße bedienen, wie wir das heute tun. Ohne die europäischen Gelder hätten wir heute nicht diese wunderschönen Innenstädte. Davon können Sie sich in Erfurt mit eigenen Augen überzeugen. Diese Stadt hat mit der Stadt, die ich vor 32 Jahren kennengelernt habe, nur noch sehr wenig zu tun. Erfurt hat sich herausgeputzt wie ein Puppenstübchen. Deswegen sage ich immer, wenn westdeutsche Besucher da sind: „Schauen Sie, was wir mit Ihrem Soli gemacht haben“, um dann hinterher zu sagen: „Die Ostdeutschen haben den Soli auch bezahlt.“
Wir brauchen die Vielfalt im differenzierten Blick auf die Dinge: Die rassistischen Angriffe von Rostock-Lichtenhagen gehören genauso wie der Brandanschlag von Mölln unverrückbar zu dieser Geschichte der Einheit nach 1990 dazu. Sie mahnen uns jeden Tag auf’s Neue, dass Rassismus, Antisemitismus, Hass und Hetze niemals – auch nicht im 32. Jahr der Einheit – als Altlast oder Marginalie behandelt werden dürfen. Und wenn wir dies beherzigen, kann es auch keine bruchlose „Erfolgsgeschichte Einheit“ geben. Gerade migrantische und jüdische Perspektiven auf die Zeit nach 1990 müssen viel deutlicher Eingang in unser kollektives Gedächtnis finden. Sie belegen eindrücklich, dass für Viele mit dem 3. Oktober 1990 mitnichten ein Leben in praktischer und gelebter Freiheit begann, sondern Ablehnung, Marginalisierung und Diskriminierung weitergingen.
Und wenn wir uns an die Bilder aus Heidenau, Freital, Hanau oder Halle erinnern, sollten wir ehrlich sein und uns die Frage stellen: „Können wir uns wirklich an einem Tag wie heute euphorisch auf die Schulter klopfen, wenn so etwas in diesem Land bis heute möglich ist?“ Ich sage klar: „Nein, das können wir nicht.“

Meine Damen und Herren,

die Wunden der Wiedervereinigung sind bis heute spürbar und deswegen habe ich meine Antrittsrede und das Jahr der Thüringer Bundesratspräsidentschaft unter das Motto „Zusammenwachsen“ gestellt. Wir können die bestehenden Gräben nur schließen, wenn wir uns bewusst machen, dass sie bestehen und warum sie bestehen.

Wir stehen in ganz Deutschland vor großen Herausforderungen und befinden uns weltweit in einem neuartigen Transformationsprozess, der geprägt ist durch Digitalisierung, Klimawandel und die Überalterung der Gesellschaften. Die Epoche des Friedens in Europa ist mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Putins auf die Ukraine an ihr Ende gelangt.

All diese Ereignisse und Prozesse werden unsere Wirtschaftsstruktur, unsere Arbeitswelt und unsere gesamte Lebensweise verändern. Das löst bei vielen Menschen Ängste und Sorgen aus.

Diese Umbruch-Phase, die wir jetzt als Land erleben und die jeden einzelnen betrifft, erleben wir als ein Deutschland.
Wir haben die Kraft, gemeinsam unser Leben von morgen zu gestalten. Und wir können auf diese Weise eine neue Stärke in uns allen finden, in unserer Diversität, in unserer Kreativität, in der gegenseitigen Anerkennung der Leistung, die jeder einzelne – egal ob in Ost oder West – dazu beitragen kann. Wir feiern heute nicht nur die Bundesländer, sondern auch die Menschen in ihrer Vielfalt.

Wir können nur zusammen wachsen, wenn wir gemeinsam nach vorne gehen. Die Lösung liegt nicht in der Vergangenheit, denn die Rahmenbedingungen haben sich geändert.
Wir müssen und wir werden uns gemeinsam verändern, damit wir auf diese Weise weiter zusammenwachsen.

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