28.10.2022

Pressemitteilung Bilanzrede von Bundesratspräsident Ramelow

Foto: Bodo Ramelow

Bodo Ramelow bei seiner Bilanzrede zur Bundesratspräsidentschaft

© Bundesrat | Sascha Radke

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Zusammen wachsen - Das war das Motto der Amtszeit von Bundesratspräsident Bodo Ramelow, die am 31. Oktober 2022 endet. In seiner Bilanzrede blickt Ramelow zurück auf ein Jahr mit großer „Ereignisfülle“ und enormen Herausforderungen - wie dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sowie Energiekrise und Inflation. Dabei unterstreicht er die Bedeutung des Föderalismus. Gerade in Krisenzeiten sei zu sehen, dass die Handlungsfähigkeit des Bundesrates stärker sei als gemeinhin von außen angenommen.


- Es gilt das gesprochene Wort -

Sehr geehrte Damen und Herren,
verehrte Gäste!

Ein Jahr Bundesratspräsidentschaft geht schnell vorüber. Das haben meine Vorgänger über ihre Amtsperiode auch gesagt, doch möglicherweise ist meine Wahrnehmung auch auf die extreme Ereignisfülle dieser zurückzuführen.

Die ersten Monate der Thüringer Bundesratspräsidentschaft waren noch von der Corona-Pandemie geprägt.
Wir haben uns gefragt, ob und wie viele Präsenzveranstaltungen überhaupt stattfinden können. Werden wir überhaupt ein Fest der deutschen Einheit feiern können? Sind Auslandsbesuche möglich?
Dann kam der 24. Februar 2022, an dem Präsident Putin den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine begann – ein Schock für Europa.

Und die Auswirkungen bestimmen bis heute die tägliche Agenda: Wie bewältigen wir die daraus entstandene Energiekrise und die Inflation? Wie unterstützen wir Menschen und Unternehmen angesichts immer stärker steigender Preise? Wie können wir den Geflüchteten aus der Ukraine angemessen helfen?

Ich möchte der Bundesratsverwaltung an dieser Stelle einen besonderen Dank aussprechen, weil ich sie als sehr flexibel erleben durfte.

Bereits einige Monate vor dem Beginn meiner Bundesratspräsidentschaft bekam ich einen dicken Ordner, in dem das Jahr mit seinen offiziellen Terminen und Reisen schon so gut wie durchgeplant war. Die Bundesratsverwaltung leistet hier eine hervorragende Arbeit, um die jeweiligen Bundesratspräsidentinnen und -präsidenten zu unterstützen. Und nur mit dieser Unterstützung können sie dieses Amt neben ihrem Job als Ministerpräsidenten überhaupt ausüben.

Aber trotz der umfangreichen Vorplanung war es möglich, eigene Themen und Akzente einzubringen und auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren.

So habe ich im Bundesrat beim jährlichen Gedenken an die während der NS-Zeit verfolgten und ermordeten Sinti, Roma, Jenischen und Fahrenden auf unsere aktuellen Defizite beim Umgang mit diesen Minderheiten aufmerksam gemacht. Gerne bin ich daraufhin im Sommer der spontanen Einladung von Romani Rose zum Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma in Auschwitz gefolgt.

Dort treffen sich jährlich die Überlebenden und deren Nachfahren, die sich an das traurige Schicksal ihrer Ahnen erinnern und ihre eigene Existenz feiern. Mir wurde dort bewusst, dass bisher kein Bundesratspräsident oder ein anderes deutsches Verfassungsorgan an einer solchen Gedenkveranstaltung teilgenommen hatte.

Mir war es wichtig, ein Signal zu senden für das Gedenken an die Sinti- und Roma-Opfer aus der Zeit des Nationalsozialismus. Mir war es aber genauso wichtig, eine Sensibilisierung für die Aufarbeitung und den heutigen Umgang mit den Folgen dieser Verbrechen zu erreichen. Denn Antiziganismus ist genauso wenig wie der Antisemitismus ein Thema von gestern. Sie erhalten wieder Auftrieb, und deswegen sage ich: Lassen Sie uns weiter hinschauen. Wir müssen an dieser Stelle hellwach sein.

Meine weiteren Besuche in Osteuropa waren bewusst von mir ausgewählt und lange geplant – sie standen aber inhaltlich plötzlich ganz im Zeichen des Krieges in der Ukraine. Polen und Rumänien sind als Grenzländer viel unmittelbarer betroffen als Deutschland. Ich habe dort eine unglaubliche Solidarität gegenüber den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine erlebt, von denen Polen weit mehr aufgenommen hat als wir.

Die zunehmende Kriegsgefahr, die Energiekrise und die Inflation sind auch in Osteuropa die bestimmenden Themen.
Schon deswegen sollten wir als europäische Partner darüber gemeinsam reden. Diese Reisen sehe ich als Appell, dass wir Osteuropa nicht aus unserem Blick verlieren dürfen. Wir müssen unsere Sichtachse verändern und stärker von Warschau und Bukarest aus auf Europa schauen.

Als EU-Länder mit einer östlichen Außengrenze der Union kommt beiden Ländern unter sicherheitspolitischen Maßstäben eine neue Rolle zu. Das hat uns näher zusammenrücken lassen.

Wir dürfen das europäische Haus nicht brüchig werden lassen und müssen jede Gelegenheit nutzen, um uns auch wirtschaftlich, wissenschaftlich und zivilgesellschaftlich weiter zu vernetzen. Wir brauchen neue Ideen und Impulse, neue Konzepte, um die aktuellen gravierenden Herausforderungen gemeinsam zu meistern: als ein starkes Europa der kooperierenden Regionen.

Die letzte Reise im Rahmen der Bundesratspräsidentschaft hat mich nach Chile geführt. Ein Land, für das ich mich ganz bewusst entschieden habe. Denn in Chile wird an der Zukunft gearbeitet – mit Themen zur Energieversorgung und zu Rohstoffen für erneuerbare Energien – und wir können davon lernen.

Besonders wichtig war mir aber, das dunkle Kapitel der Colonia Dignidad anzuschauen und zu beleuchten. Diese deutsche Enklave in Chile hat ihrem Namen „Kolonie Würde“ keine Ehre gemacht. Die Menschen, die Anfang der 1960er Jahre einem deutschen Laienprediger mit seiner Sekte nach Chile gefolgt waren, dachten, sie kämen in den Himmel. Aber tatsächlich kamen sie in die Hölle.

Geschützt von mächtigen Netzwerken, die später auch am Sturz des linken Präsidenten Salvador Allende beteiligt waren, wurde hier über Jahrzehnte hinweg systematisch gefoltert, gequält und gemordet. Nach dem Pinochet-Putsch 1973 stand die Colonia Dignidad als Folterzentrum für den Geheimdienst bereit, der hier Regimegegner festhielt und ermordete. Erst seit 2017 gibt es Ausgleichszahlungen für Opfer und Überlegungen für eine Gedenkstätte. Ich habe den Eindruck, dass Versöhnung möglich ist. Aber es bedarf hier in der weiteren Aufarbeitung und der positiven Begleitung durch Deutschland.

Sehr geehrte Damen und Herren,
ein Jahr lang war ich als Verfassungsorgan unterwegs und habe das deutsche Zweikammersystem im Ausland repräsentiert. Die positive Ausstrahlungskraft des Föderalismus ist für mich dabei noch viel deutlicher zutage getreten.
Denn während wir hier oft mit einem genervten Seitenblick auf unsere vielfältige Gewaltenteilung schauen und die vielen verschiedenen Stimmen manchem lästig erscheinen, habe ich erlebt, wie uns andere Länder darum beneiden, wie wir es schaffen, die vielen Stimmen unter einen Hut zu bekommen und die Stärken der Regionen zu nutzen.

Mit dem spanischen Senat haben wir im Bundesrat über die Strahlkraft des Föderalismus diskutiert. Als ich in Belgien war, wurde ich dort nach unseren Erfahrungen gefragt, da dort überlegt wird, ob die Landesgliederung und damit auch die Machtbalance verändert werden sollte. Und auch die Gouverneure in Chile stehen vor der Frage, ob sie nicht mehr Föderalismus wagen sollten.
Es war eine wichtige Erfahrung für mich, den deutschen Föderalismus dort zu vertreten – mit Glaubwürdigkeit und aus tiefer Überzeugung.

Ich möchte mich an dieser Stelle bei zwei Menschen bedanken, die mich ihrerseits als Vertreter des Föderalismus im vergangenen Jahr sehr beeindruckt haben.
Einmal bei Volker Bouffier, den ich als damals dienstältesten Ministerpräsidenten, als Urgestein des Föderalismus, hier aus dieser Runde verabschieden durfte.
Und zum anderen bedanke ich mich bei Staatssekretär Michael Schneider, der als Leiter der Landesvertretung Sachsen-Anhalt beim Bund in Berlin und als Bevollmächtigter des Landes beim Bund insgesamt mehr als 20 Jahre tätig war – eine unheimlich lange Zeit.

Menschen wie sie tragen mit ihrem langjährigen Engagement dazu bei, dass der Föderalismus ein Erfolgsmodell bleibt. Auch in den jetzigen Krisenzeiten sehen wir, dass die Handlungsfähigkeit des Bundesrates stärker ist als gemeinhin von außen angenommen wird.
Und hinsichtlich der gemeinsamen Balance mit der Bundesregierung nach dem Regierungswechsel: Da arbeiten wir dran, aber es gibt noch Luft nach oben.

Dass in der bundesrepublikanischen Machtbalance die Regionen stark repräsentiert sind, halte ich für einen zivilisatorischen Fortschritt. Und der wurde nach der Wiedervereinigung fortgesetzt. Der Beitrittsprozess von Ostdeutschland lief über die Länder. Der Tag der Deutschen Einheit ist ein Fest der Länder.

Und dieses Fest der Deutschen Einheit zu Beginn dieses Monats in Erfurt habe ich als einen sehr fröhlichen Tag wahrgenommen, bei dem die Schwierigkeiten nicht verleugnet, aber vor allem die Stärken sichtbar wurden.
185.000 Menschen haben Erfurt in den drei Tagen besucht und es hat allen, die da waren, sehr gut gefallen. Das macht deutlich, dass Deutschland Ost und Deutschland West miteinander feiern können.

Das Motto der Thüringer Bundesratspräsidentschaft lautete „Zusammenwachsen“. Überall, wo ich im vergangenen Jahr war, ob in Polen, Rumänien, den westeuropäischen Ländern und auch in Chile, sowie in Ost und West, ist mir das Thema „Zusammenwachsen“ emotional als Aufgabe begegnet, die überall positiv angenommen werden kann und positiv angenommen werden sollte.
Es gibt kein Zusammenwachsen, das verordnet wird, es gibt nur ein Zusammenwachsen, wenn man zusammen wächst.

Und das kann dann auch „Horizonte öffnen“, das Motto der kommenden Bundesratspräsidentschaft von Hamburg. Der Transformationsprozess unserer Gesellschaft geht weiter, und auch das kommende Jahr wird wieder viele Herausforderungen bereithalten. Meinem Hamburger Kollegen Peter Tschentscher wünsche ich, dass er die Bundesratspräsidentschaft mit Hamburger Gelassenheit angeht und mit dem weiten Blick den Horizont ansteuert.

Ich wünsche ihm dabei die bestmögliche Unterstützung.

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