Gedenkrede Dass sich ihr Leid niemals wiederholt, ist unsere Verantwortung!


Meine sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Heute ist eine besondere Sitzung: Wir gedenken der Opfer des nationalsozialistischen Völkermords an Sinti und Roma sowie der Gruppe der Jenischen und anderer Fahrender.

Ich begrüße dazu ganz besonders den Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Herrn Romani Rose, den Vorsitzenden der Sinti Allianz, Herrn Oskar Weiss, sowie den Stellvertretenden Vorsitzenden des Bundesrates der Jenischen, Herrn Hohenstein, und weitere Vertreter ihrer Verbände.

Meine Damen und Herren, mehr als eine halbe Million Menschen der Minderheit haben im Holocaust ihr Leben verloren. Männer, Frauen und Kinder. Der Terror der Nazis machte vor niemandem Halt. Er kannte keine Gnade. Keine Achtung vor menschlichem Leben. An das Schicksal dieser Menschen zu erinnern ist unsere historische Pflicht.

Dass sich ihr Leid niemals wiederholt, ist unsere Verantwortung! Und wir bekennen uns zu unserer Verantwortung! Das ist unser Versprechen gegenüber allen Opfern und ihren Hinterbliebenen.

Meine Damen und Herren, inzwischen sind 76 Jahre vergangen, seit die Feindlichkeit gegenüber Sinti und Roma und den Familien der Fahrenden ihren tiefsten Abgrund erreichte. Der heutige Gedenktag erinnert an den Auschwitz-Erlass vom 16. Dezember 1942, der die Massenvernichtung der Sinti und Roma einleitete. Gewalt und Hass türmten sich auf zu einer vorher und auch danach nie gekannten Welle menschlichen Leids. Mit den Vernichtungslagern brach sie über Wehrlose und Unschuldige herein.

Ihren Anfang nahm diese Welle 1935. In den folgenden Jahren schwappte die Feindlichkeit gegenüber Minderheiten und Fremden durch alle gesellschaftlichen Schichten. Die systematische Vernichtung war dann der Moment, als diese Welle von Hass und Gewalt uns in den Zivilisationsbruch stürzte.
Viele Menschen in Deutschland - auch wir hier im Plenum - haben diese Zeit nicht persönlich erlebt. Umso wichtiger ist es, dass Zeitzeugen ihre Geschichten erzählen, dass sie uns an ihren Geschichten teilhaben lassen.
Die Schriftstellerin Philomena Franz ist eine von ihnen. Sie hat den Holocaust überlebt. Und in den Jahren danach ihre Geschichte erzählt - wieder und wieder. Dafür wurde sie unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Von ihr stammt der Satz: "Die Wahrheit ist schmerzlich, aber nur mit ihr können wir unser Glück aufbauen."
Wahr ist: Lange Zeit wurde diese Wahrheit in Deutschland nicht gesucht. Der Mut, den es dafür braucht, fehlte.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Geschichte der Ausgrenzung von Sinti und Roma nicht beendet. Wie in den Jahrhunderten zuvor begegneten ihnen auch im Deutschland der Nachkriegszeit gesellschaftliche Widerstände. Leider kann Philomena Franz auch das bezeugen. Noch in den 60er Jahren wurde ihr Sohn in der Grundschule als "Zigeuner" beschimpft.

Wir können es uns heute kaum vorstellen, doch bis weit in die 50er Jahre hinein urteilten auch deutsche Gerichte bei Anliegen von Sinti und Roma nach rassistischen Maßstäben. Die rassistische Diskriminierung während der NS-Zeit wurde erst Anfang der 60er Jahre gerichtlich anerkannt. Den Menschen ist nach dem Krieg erneutes Unrecht widerfahren. Im Namen Deutschlands wurde weiteres Leid verursacht. Über viele Jahre. Das gehört zur schmerzlichen Wahrheit dazu!
Auch Philomena Franz hat es schwer getroffen, dass diese systematische Verfolgung so lange nicht anerkannt worden ist. Wir wissen heute um dieses Unrecht. Und wir erkennen unsere Verantwortung auch dafür endlich an! Heute haben wir den Mut dafür gefunden. Ich freue mich, dass wir an diesem besonderen Tag das auch sichtbar machen.

Später wird die Bundesfamilienministerin, Frau Dr. Giffey, eine Bund-Länder-Vereinbarung unterzeichnen; die Ministerpräsidenten haben dieser bereits in der vergangenen Woche zugestimmt. Mit dieser Vereinbarung sicher wir den Erhalt von Gräbern NS-verfolgter Sinti und Roma. Die Gräber sind Orte der Erinnerung für Familien, Nachfahren und Freunde der Verstorbenen. Sie sind ebenso Orte der kollektiven Erinnerung. Orte, die wir über 70 Jahre nach Ende des Krieges unbedingt brauchen - um im wahrsten Sinne zu begreifen, was damals passiert ist.
Diese Gräber mahnen uns, Rassismus und Antiziganismus niemals wieder zu tolerieren.
Sie mahnen uns, Hetzern entschlossen zu widersprechen.
Sie helfen uns dabei, die kollektive Erinnerung wachzuhalten. Auch dann noch, wenn Zeitzeugen uns nicht mehr berichten können.

Meine Damen und Herren, Akzeptanz und Minderheitenschutz sind in den vergangenen Jahren stärker geworden. Dennoch sind Aufklärung und Erinnerungsarbeit nach wie vor nötig: Denn die Stigmatisierung von Sinti und Roma ist nach wie vor existent - überall in Europa.
Minderheiten werden in unserem europäischen Verbund heute nicht uneingeschränkt als Bereicherung angesehen. Das Zusammenleben von Minderheiten und Mehrheiten ist nicht immer reibungslos. Seit einiger Zeit gibt es sogar wieder lauter werdende Rufe nach Ausgrenzung - auch von höchsten Stellen.
Ich teile daher Ihre Auffassung, sehr geehrter Herr Rose, dass der Staat und seine Bildungseinrichtungen hier gefordert sind. Wenn heutzutage mehr als ein Drittel der jungen Menschen in Deutschland angibt, wenig bis nichts über den Holocaust zu wissen, zeigt das: Erinnerungs- und Bildungsarbeit sind wichtiger denn je.

Wir müssen unsere Gesellschaft mehr für die Geschichte und die heutige Situation der Minderheiten sensibilisieren. Indem wir Orte für Erinnerung schaffen und erhalten. Indem wir selbstbewusst die Eigenständigkeit der hier lebenden Minderheiten fördern und gleichzeitig die Gemeinsamkeiten betonen. Und indem Minderheiten und Mehrheitsgesellschaft ihrer Verantwortung für ein gutes Zusammenleben gemeinsam aktiv nachkommen.
In Schleswig-Holstein haben wir mit diesem Ansatz gute Erfahrungen gemacht. Deutsche Sinti und Roma, Dänen und Friesen sind bei uns in der Landesverfassung als Minderheiten verankert. Mehrheit und Minderheiten pflegen in Schleswig-Holstein ein friedliches und von Respekt geprägtes Miteinander.

Meine Damen und Herren, Gedenken bedeutet erinnern. Gedenken bedeutet auch: Das, was passierte, darf nie wieder passieren. Wenn wir heute des Schicksals der während der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma gedenken, gehört es ganz klar dazu, jene Kräfte zu stärken, die sich schützend vor angegriffene Minderheiten stellen - in ganz Europa.
Wir müssen uns daher fragen:
Wie können wir das Zusammenleben von Minderheiten und Mehrheiten in Europa stärken?
Wie können die Institutionen Europas, wie Kommission und Parlament ihre Verantwortung für Minderheiten stärker wahrnehmen?
Und: Wie kommen wir zu einem noch stärkeren Minderheitenschutz in Europa?

Diese Fragen zu stellen und darauf Antworten zu finden - das ist und bleibt unser Teil der Verantwortung!
Wir sollten uns dabei von den Worten von Philomena Franz leiten lassen: „Wenn wir hassen, verlieren wir. Wenn wir lieben, werden wir reich.“
Ich darf Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben, um der Opfer nationalsozialistischer Gewalt unter den Sinti und Roma, den Angehörigen der Gruppe der Jenischen und anderer Fahrender zu gedenken.
(Die Anwesenden erheben sich)
Ich danke Ihnen.

Stand 14.12.2018

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