Gedenkrede Rede von Bundesratspräsident Reiner Haseloff zum Gedenken an die Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma sowie der Gruppe der Jenischen und Fahrenden

- Es gilt das gesprochene Wort -

Wir gedenken heute der Opfer des nationalsozialistischen Völkermords an Sinti und Roma sowie der Gruppe der Jenischen und anderer Fahrender. Ich begrüße sehr herzlich den Vorsitzenden des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Herrn Romani Rose, und den Vorsitzenden der Sinti Allianz Deutschland, Herrn Oskar Weiss. Sie sind per Livestream zugeschaltet.

Meine Damen und Herren,
vor 78 Jahren, am 16. Dezember 1942, erging im nationalsozialistischen Deutschland der sogenannte „Auschwitz-Erlass“. Er war der grausame Tiefpunkt einer jahrelangen Verfolgung und Diskriminierung von Sinti und Roma, von Jenischen und Fahrenden. Rund 500.000 von ihnen fielen dem Genozid zum Opfer. Sie verhungerten, wurden brutal misshandelt, vergast oder erschossen, sie starben infolge von Zwangsarbeit oder medizinischen Versuchen. Opferzahlen können uns zwar die schreckliche Dimension dieses Völkermordes vermitteln. Aber Statistiken verraten uns nichts über das Leid, die Gefühle und Ängste der Opfer. Allzu leicht vergessen wir: Hinter jeder Zahl verbirgt sich ein menschliches Schicksal. Umso wichtiger ist das Gedenken. Es gibt den Opfern ihre Würde wieder. Ihr Leiden darf uns nicht gleichgültig sein.

Auch die Überlebenden trugen Narben davon, die nicht verheilten. Hermine Horvath, eine Romni, wurde nach Auschwitz und Ravensbrück deportiert. Im Januar 1958 erklärte sie: "Gerne würde ich noch nochmals von vorne anfangen, wäre ich nur ein gesunder Mensch." Epidemien und Erfrierungen hatten ihre Gesundheit ruiniert. Sie starb zwei Monate später im Alter von 33 Jahren. Auschwitz ist der Inbegriff für die nationalsozialistischen Völkermorde und den schlimmsten Zivilisationsbruch in der Geschichte der Menschheit. Hier wurden, im sogenannten Zigeunerlager, rund 23.000 Häftlinge aus elf europäischen Ländern interniert. Die allermeisten von ihnen wurden qualvoll ermordet. Im Lager wurden 371 Kinder geboren. Keines von ihnen überlebte. Sinti und Roma, Jenische und Fahrende haben Furchtbares unter dem Nationalsozialismus erleiden müssen.

Aber noch immer ist dieser Völkermord im öffentlichen Bewusstsein nicht hinreichend präsent. Bislang sind auch nur wenige Monographien zu diesem Thema erschienen. Ich denke vor allem an das eindrucksvolle Buch von Heiko Haumann über das Leben der Zilli Reichmann, eine Auschwitz-Überlebende. Anhand ihrer Lebensgeschichte, sie wurde 1924 geboren, schildert der Autor eindringlich Geschichte und Kultur der Sinti im 20. Jahrhundert.

Zilli Reichmann zählt zu den wenigen noch lebenden Zeitzeuginnen. Bald werden ihre Stimmen verstummen. Zunehmend wichtiger wird die besondere, die sekundäre Zeitzeugenschaft. Sie erfordert vor allem Engagement und Empathie. Der Völkermord an den Sinti und Roma darf nicht zu einer fernen Vergangenheit werden. Das Gedenken daran muss einen zentralen Platz in unserer Gesellschaft einnehmen. Dafür tragen wir alle Verantwortung. Anders formuliert: Wenn das individuelle Gedächtnis abnimmt, muss das kollektive Gedächtnis zunehmen. Erst die Erinnerung schützt vor Wiederholungen

Können wir aus der Geschichte lernen? Vor allem aus der Geschichte, meine ich. Geschichtskenntnisse erleichtern die Einordnung von Zusammenhängen, schärfen den Blick für unsere Gegenwart und geben Orientierung. Wir dürfen der Zukunft nicht blind vertrauen. Antiziganismus, Antisemitismus, Nationalismus und Rassismus sind aus unserer Gesellschaft nicht verschwunden. Bewusste Tabubrüche sind keine Seltenheit mehr. Rechtspopulisten nutzen Stimmungen zur Mobilisierung. Ihre Proteste richten sich in ihrer Tiefe gegen den liberalen Staat, seine Institutionen und seine demokratische Kultur. Wir müssen solchen Einstellungen entschieden widersprechen. Es geht darum, Haltung zu zeigen: im familiären wie im privaten und öffentlichen Umfeld. Auch Schweigen und Passivität können Einstellungen prägen, Entwicklungen nachhaltig beeinflussen und weitreichende negative Folgen haben.

In diesem Kontext stellt sich die Frage: Was konnte man und was wollte man damals wissen? Bereits ab 1933 waren in vielen deutschen Städten Zwangslager für Sinti- und Roma-Familien eingerichtet worden. Deren Existenz war bekannt. Ebenso wenig ließen sich die ab 1940 einsetzenden Zwangsräumungen der Lager und die Deportationen der Menschen in das besetzte Polen geheim halten. Die Brutalität der Machthaber war offensichtlich. Und doch zogen es die meisten Menschen damals vor zu schweigen. Sie wollten die Verbrechen vor ihrer Haustür nicht wahrhaben. Tatsächlich war aber das Wissen um die nationalsozialistischen Verbrechen weit verbreitet. Es existierte ein Wissen im Schweigen. Studien von renommierten Historikern haben das belegt. Diese Tatsache dürfen wir nicht ignorieren oder relativieren. Vielmehr sollten sie uns eine eindringliche Warnung sein. Wir alle sind aufgefordert, wachsam zu bleiben und unsere Stimme zu erheben gegen Antiziganismus, Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.

Für unser Gemeinwesen sind wir alle zuständig. Wie wir seine Zukunft gestalten, liegt an uns. Hierzu gehört auch, die Verantwortung für die eigene Geschichte anzunehmen. Nach 1945 wurde der Völkermord an den Sinti und Roma vergessen: in der Bundesrepublik wie in der DDR. Mitte der 1960er-Jahre schrieb eine Sintiza an die DDR-Zeitschrift „Wochenpost": „Aber keiner denkt daran, dass auch wir bittere Not gelitten haben, dass sich die Erde von Auschwitz und anderen Lagern rot von unserem Blut färbte. Warum hat man uns nur vergessen?“ Und dieses bittere Fazit gilt für beide Teile Deutschlands. Zum erlittenen Leid im Nationalsozialismus kam das Verdrängen und Vergessen nach 1945. Niemand interessierte sich für das Schicksal der Sinti und Roma. Das änderte sich erst in den 1980er-Jahren. Bei uns in Magdeburg erinnert heute gegenüber dem Dom ein Denkmal an ihr Schicksal. Es hat – auch das darf nicht verschwiegen werden - nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges viel zu lange gedauert, bis sie als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt wurden.

Was die Betroffenen dabei empfunden haben, können wir nur ahnen. Zum erlittenen Leid und Unrecht kamen nach dem Krieg Gleichgültigkeit und ein eklatanter Mangel an Empathie. Das ist nicht mehr rückgängig zu machen. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir können aber daraus lernen, und es besser machen. Das ist unsere Verpflichtung und Aufgabe. Die Verantwortung für eine gute Zukunft liegt vor allem in unseren Händen. Die Regeln unseres Zusammenlebens bestimmen wir. In welcher Gesellschaft wir leben wollen, ist eine Frage, die sich an uns alle richtet. Und darauf kann es nur eine Antwort geben: In unserer Gesellschaft muss ein Klima der Toleranz, der Menschlichkeit und des gegenseitigen Respekts herrschen. Nur dann können Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen in Frieden miteinander leben. Unsere Verfassungsordnung ist die Grundlage unseres Zusammenlebens. Sie schließt das Bekenntnis zu den unveräußerlichen Menschenrechten, zur Herrschaft des Rechts, zur Gewaltenteilung, zur Volkssouveränität und zur repräsentativen Demokratie ein.

Anrede
Von den heute in Deutschland lebenden Sinti und Roma sind rund 70.000 deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Sie sind seit 1995 als nationale Minderheit anerkannt. Trotz aller Fortschritte sehen sich aber nach wie vor mit Vorurteilen konfrontiert. Der Antiziganismus ist aus Deutschland nicht verschwunden. Das ist besorgniserregend. Vorurteile können eskalieren. Der Völkermord an den Sinti und Roma war ein schleichender Prozess. An dessen Anfang – lange vor 1933 – standen Stigmatisierungen, Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Abschiebungen. Das darf sich nie mehr wiederholen. Wehret den Anfängen. Wir müssen wachsam bleiben. Bildung und fundierte Kenntnisse über politische und geschichtliche Zusammenhänge können ein wirksamer Schutz gegen einfache Welterklärungen sein. Die Wirklichkeit ist nie Schwarz oder Weiß. Sie ist viel komplexer.

„Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung“, schrieb der Philosoph Theodor W. Adorno 1966. Das gilt heute mehr denn je. Und ich füge hinzu, indem ich den ersten Absatz des ersten Artikels unseres Grundgesetzes zitiere: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Liebe Kollegen und Kolleginnen, bitte erheben Sie sich nun von Ihren Plätzen, um der Opfer nationalsozialistischer Gewalt unter den Sinti und Roma, den Angehörigen der Gruppe der Jenischen und anderer Fahrender zu gedenken.

Stand 18.12.2020

Glossary

Hinweis zum Datenschutz

Sie können hier entscheiden, ob Sie neben technisch notwendigen Cookies erlauben, dass wir statistische Informationen vollständig anonymisiert mit der Webanalyse-Software Matomo erfassen und analysieren. Statistische Informationen erleichtern uns die Bereitstellung und Optimierung unseres Webauftritts.

Die statistischen Cookies sind standardmäßig deaktiviert. Wenn Sie mit der Erfassung und Analyse statistischer Informationen einverstanden sind, aktivieren Sie bitte das Häkchen in der Checkbox „Statistik“ und klicken oder tippen Sie auf den Button „Auswahl bestätigen“. Anschließend wird in Ihrem Browser ein eindeutiger Webanalyse-Cookie abgelegt.

Weitere Informationen zum Thema Datenschutz erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.