Bilanzrede von Bundesratspräsident Michael Müller am 19. Oktober 2018 Es geht um Gerechtigkeit und den Erhalt des sozialen Friedens


- Es gilt das gesprochene Wort -

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

dies ist für mich eine besondere Sitzung; denn heute stehe ich dem Bundesrat zum letzten Mal als Präsident vor. Erlauben Sie mir deshalb, wie es hier am Ende einer Amtszeit üblich ist, zu Beginn unserer heutigen Sitzung einen Blick auf das vergangene Jahr zurückzuwerfen!

Gemeinsam haben wir im Bundesrat ein arbeitsreiches Jahr durchlaufen mit vielen Sitzungen und Terminen. Ich möchte deswegen mit einem Dank beginnen: Die zusätzliche Aufgabe wäre ohne die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesratsverwaltung kaum zu bewältigen gewesen. Ich danke Ihnen, liebe Frau Dr. Rettler, lieber Herr Dr. Kleemann, sowie Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr herzlich für die gute Begleitung im vergangenen Jahr und Ihre tatkräftige Unterstützung. Mein Dank gilt natürlich auch den Vizepräsidenten Malu Dreyer und Daniel Günther, der in den kommenden zwölf Monaten dem Bundesrat vorsitzen wird. Vielen Dank für die kollegiale, verlässliche und gute Zusammenarbeit!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es war auch ein Jahr mit vielen bewegenden Momenten, neuen Erkenntnissen und Eindrücken, ein Jahr, das seinen Höhepunkt in unserer gemeinsamen Berliner Einheitsfeier vor gut zwei Wochen fand. Es war mir eine große Freude, viele von Ihnen zum Tag der Deutschen Einheit begrüßen zu können, um gemeinsam mit den vielen Menschen aus Berlin, Deutschland und vielen anderen Ländern unsere Einheit zu feiern. Dabei haben sich alle unsere Bundesländer auf vielfältige, interessante und unterhaltsame Art präsentiert und so unserem – nicht immer hinreichend beachteten – Föderalismus ein lebendiges Gesicht gegeben.

Dieser Föderalismus aber, den wir in diesem Haus leben und prägen, ist Ausdruck einer starken Demokratie und ein wichtiger Baustein für die Stabilität unseres Landes. Hier ist der Ort, an dem wir um das Gleichgewicht zwischen den Interessen des Bundes und der Länder ringen, wobei wir natürlich nie die Interessen der Menschen aus den Augen verlieren dürfen, die wir in unseren Ländern vertreten. Im föderalen Ringen mit dem Bund sind wir es, die dafür Sorge tragen, dass die Belange aller Regionen beachtet werden. Dafür stehen wir – über Parteigrenzen hinweg.
Das ist gerade in diesen Zeiten, wie ich glaube, sehr wichtig; denn es sind unruhige Zeiten. Unsere Demokratie verändert sich schon alleine dadurch, dass in unseren Parlamenten immer mehr Parteien sitzen und als Konsequenz die gewohnten Zweierkoalitionen der alten Bundesrepublik seltener werden. Hier im Bundesrat bilden sich 13 verschiedene Koalitionsmodelle ab.

Das verändert auch unsere Arbeit. Es erhöht die Anzahl der Entscheidungen, bei denen es zu Enthaltungen kommen kann, weil sich drei Koalitionspartner nun einmal schwerer einig werden als zwei. Wir müssen mit unserer Rolle verantwortungsvoll umgehen. Das bedeutet für mich auch, dass Koalitionen die Tätigkeit des Bundesrates als wichtige Arbeit für unsere Gesellschaft ansehen und dem politischen Kompromiss zum Wohle des Landes eine große Rolle zugestehen müssen; denn die Menschen werden es nicht verstehen, wenn wir in wichtigen Fragen wegen der Koalitionsräson nicht entscheiden. Vielleicht ist es ja tatsächlich eine Chance, öfter zu zeigen: Politik ist auch immer die Kunst des Kompromisses. Und: Einen Kompromiss zu suchen zwischen zwei widerstrebenden Meinungen und nicht sofort dem Lauteren oder Stärkeren nachzugeben, tut unserer Demokratie sehr gut.

Meine Damen und Herren, mit jeder Bundesratspräsidentschaft ist natürlich ein eigener Blickwinkel verbunden, ein besonderer Akzent, der sich aus der Perspektive des Bundeslandes und aus den aktuellen Themen der Bundesratspräsidentschaft ergibt.

Ich habe die Zeit meiner Bundesratspräsidentschaft auch als Auftrag sowie als Chance verstanden, Themen und Debatten aufzugreifen, die den Menschen in unserer Gesellschaft wichtig sind: Zusammenhalt und Gemeinsinn. Ein klares Bekenntnis zu unserer Demokratie ist mir dabei besonders wichtig. Gleichzeitig sehe ich Globalisierung und Digitalisierung als Chance für unseren Wohlstand, aber natürlich auch als Herausforderung.

Der digitale Umbruch hat auch viel mit dem Motto unserer Einheitsfeier zu tun; denn es ist unser aller Anspruch, den Alltag und besonders Veränderung gemeinsam mit den Menschen zu gestalten. „Nur mit Euch“, das Motto des Tages der Deutschen Einheit, ist ein Anspruch, den wir täglich leben müssen, um Vertrauen zu bewahren und vor allem neues zu gewinnen.

Wir leben in Zeiten, in denen die Menschen nicht mehr zuschauen, einmal alle vier oder fünf Jahre wählen und sich dann wieder zurücklehnen. Ja, es ist manchmal kompliziert. Es ist auch langwierig. Aber es ist der einzige Weg, schwierige Zeiten und grundlegende Veränderungen so zu gestalten, dass möglichst alle mitkommen und das Gefühl haben, Zukunft wirklich gemeinsam zu gestalten.

Wir sprechen häufig davon, dass Demokratie vom Mitmachen lebe. Wir müssen aber auch die Möglichkeiten schaffen, das in die Tat umzusetzen. Und wir müssen dafür werben. Wir müssen deutlich machen, dass dieses Mitmachen wirklich erwünscht ist: in der Politik, aber auch an vielen anderen Stellen, in Gewerkschaften, Kirchen, Verbänden, Vereinen und Initiativen oder auch, vollkommen ungebunden, im Umgang mit dem Nächsten. Denn die Stärke unserer Gesellschaft lebt vom Mitmachen, vom Interesse am anderen und von der Bereitschaft, sich einzubringen. Nicht im Rückzug ins Private oder im engen Korsett alter Nationalismen, sondern in der Öffnung für den anderen, im Wir, eben nicht in der Ab- und Ausgrenzung der Populisten liegt die Stärke unserer demokratischen und weltoffenen Gesellschaft.

Wir müssen alles dafür tun, um die Menschen weiter oder auch wieder für unsere Demokratie zu begeistern und für eine aktive Gestaltung zurückzugewinnen. Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten, und zwar nicht nur als Demokratiekonsumenten, sondern in allen Institutionen, ja besonders in Kommunal- und Landesparlamenten oder auch auf der Straße.

Eines sollte dabei klar sein: Man kann Politik, Parteien und Entscheidungen kritisieren. Man kann andere Vorstellungen haben. Man kann dafür demonstrieren, sich in Parteien, Gewerkschaften, Kirchen oder Bürgerinitiativen engagieren. Aber niemand muss Seite an Seite mit Rechtsextremen und Feinden unserer Demokratie marschieren, weil er glaubt, sonst nicht gehört zu werden. Am vergangenen Samstag haben rund 240 000 Menschen allein in Berlin klargemacht: Das ist unser Land, und in diesem Land ist kein Platz für Hass, Ausgrenzung Anderslebender, Rassismus und Antisemitismus.

Meine Damen und Herren, ich weiß: In diesem Haus sind wir aus gutem Grund zurückhaltend. Aber wir leben in Zeiten, in denen alle, auch wir im Bundesrat, für unsere Demokratie und für unsere Werte deutlich machen müssen: Populisten, Rassisten und Nationalisten stellen wir alle uns entschieden entgegen!

Es ist wichtig, dass wir Ängste ernst nehmen. Ja, wir leben in atemlosen Zeiten der Digitalisierung und Globalisierung. Wir müssen die enormen Chancen sehen, die sich damit verbinden, und gleichermaßen unserer Verpflichtung zur Gestaltung nachkommen. Im Mittelpunkt meiner Bundesratspräsidentschaft stand der Anspruch, dass wir unsere Zukunft digital und sozial gestalten. Das heißt, dass wir uns inmitten des großen Umbruchs der Digitalisierung beiden Dimensionen dieser Entwicklung widmen müssen: den wirtschaftlichen und technologischen Chancen und den sozialen Herausforderungen.

Wir stehen mit Globalisierung und Digitalisierung vor einer neuen sozialen Frage: Wie kann es uns gelingen, dass alle Menschen an der Entwicklung teilhaben können, dass sie die Möglichkeit erhalten, davon zu profitieren? Oder anders formuliert: Wie verhindern wir, dass Menschen abgehängt und zu Verlierern der Digitalisierung werden?

Es geht dabei um die Frage der Gerechtigkeit und um den Erhalt des sozialen Friedens. Wir alle erleben, dass das digitale Zeitalter auch mit Entfremdung einhergeht, dass Menschen sich zurückziehen, wenn sie sich nicht mehr verstanden fühlen, und sich andere Wege suchen, um ihren Unmut zu artikulieren. Die Beantwortung der sozialen Frage ist für die Akzeptanz der vor uns liegenden Veränderungen entscheidend. Es liegt in unserer Verantwortung, dafür eine Sensibilität zu entwickeln und Antworten darauf zu finden: durch soziale Sicherung aller, auch derer, die in Zeiten des Plattformkapitalismus scheinbar selbstständig arbeiten, durch lebensbegleitende Qualifizierung, aber auch durch sichere Renten, die auf verschiedene Lebensphasen reagieren, und durch gute Arbeit für alle, um Teilhabe und gesellschaftliche Anerkennung zu gewährleisten.

Meine Damen und Herren, wir haben den 3. Oktober dieses Jahr in Berlin gefeiert, in unserer Hauptstadt, der großen, deutschen Metropole mitten in Ostdeutschland. Es war mir als Regierendem Bürgermeister und ostdeutschem Ministerpräsidenten wichtig, gerade an diesem Tag deutlich zu machen, dass wir es auch 28 Jahre nach der Einheit noch nicht erreicht haben, überall in Deutschland für gleichwertige Verhältnisse zu sorgen. Rente, Löhne, die Sicherung guter industrieller Arbeitsplätze, Zukunftsperspektiven für alle Generationen – in all diesen Fragen können Ostdeutsche darauf verweisen, dass es noch nicht gerecht zugeht. Das müssen wir ändern. Dafür tragen wir alle Verantwortung: die Politik, indem sie Gerechtigkeit durch Gleichheit, zum Beispiel bei der Rente, schaffen muss, die Wirtschaft, indem sie ihren Teil dazu beiträgt, dass in Ostdeutschland gute Arbeit gesichert und vor allen Dingen auch in der Industrie ausgebaut wird.

Doch bei allen Herausforderungen, die die Einheit immer noch mit sich bringt, sollten wir nie vergessen, wie großartig es ist, dass die Menschen im Osten unseres Landes das in einer friedlichen Revolution erkämpft haben, was uns die brutale Teilung durch Mauer und Schießbefehl vorenthalten hat: mit unseren Nachbarn, in unseren Familien und als Deutsche friedlich, gemeinsam in einem Land zu leben. Ich danke den Menschen, die dafür in Leipzig, Ost-Berlin und vielen anderen Städten der ehemaligen DDR auf die Straße gegangen sind.

Wir wissen: Viele mussten dafür nach der Wende oftmals auch persönliche Opfer durch Arbeitslosigkeit und mangelnde Wertschätzung auf sich nehmen. Deswegen bleibt Respekt vor der Leistung und den Biografien unserer ostdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger auch 28 Jahre nach der Einheit wichtig. Ich glaube, unser Festakt am 3. Oktober hat deutlich gemacht, wie viel in den vergangenen 28 Jahren auch gelungen ist und dass wir stolz sein können auf unseren gemeinsamen Weg in ein geeintes und friedliches Deutschland.
Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam weitergehen – für ein weltoffenes, tolerantes Land, das Solidarität auch zurückgibt an all jene, die Hilfe brauchen und auf der Flucht sind. Für eine gute, sichere und gerechte Zukunft unserer Bundesländer und damit aller Menschen, die in Deutschland leben, ganz gleich welcher Herkunft, Religion, Lebensweise oder Überzeugung.

Lassen Sie uns gemeinsam streiten dafür, dass wir weiter auf der Grundlage der Werte unseres Grundgesetzes zusammenleben! Wer Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung, Religionsfreiheit nicht akzeptieren kann oder bekämpft, der kann und wird nie Teil unserer Gemeinschaft sein.

Meine Damen und Herren, es war mir eine Ehre und große Freude, mit Ihnen gemeinsam dieses Jahr der Berliner Bundesratspräsidentschaft zu gestalten. Es war ein spannendes Jahr mit vielen Aufgaben und Eindrücken. Ich nehme viele gute Erfahrungen mit in das kommende Jahr unter der neuen Bundesratspräsidentschaft von Daniel Günther. Ich freue mich darauf und bin mir sicher: Der von uns allen mit Überzeugung getragene Föderalismus wird auch im kommenden Jahr gute und wichtige Arbeit für unser Land leisten. Wir haben es in der Hand, liebe Kolleginnen und Kollegen, unseren Beitrag zu leisten für Demokratie, Wohlstand und Zusammenhalt. Wir tragen weiter unsere Verantwortung für eine gute Zukunft Deutschlands und Europas. Lassen Sie uns in diesem Sinne in die heutige Sitzung starten! – Vielen Dank.

Stand 19.10.2018

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