Scheinbar echt

Foto: Jugendliche bei Planspiel im Plenarsaal des Bundesrates

© Bundesrat | Frank Bräuer | 2008

Am 17. und 18. November 2008 bevölkerten 105 Berliner Schülerinnen und Schüler die Räume des ehemaligen preußischen Herrenhauses. Die Leistungsklässler des Faches Politische Weltkunde probten zwei Tage die Gesetzgebung des Bundesrates und zeigten sich alles andere als politikverdrossen.

Erinnerung: Es ist nur ein Rollenspiel. Deutlich lesbar schreibt die Familienministerin aus Baden-Württemberg diesen Merkzettel und schiebt ihn gut sichtbar über den Tisch. Dort sitzen ihre Kabinettskollegen und diskutieren heftig. Den Zettel nehmen sie nicht wahr. "Die wollen alles blockieren, wenn sie kein Rederecht bekommen! Gestern waren sie noch für die Anhebung der Quoren!" Der Innenminister Baden-Württembergs ist außer sich. Seine Kollegen aus Nordrhein-Westfalen, Bayern und Niedersachen ebenso: Heilloses Chaos im Raum 4041 des Bundesrates.

Hier haben sich die schwarz-gelben Regierungen der vier stärksten Länder versammelt, um ihr Abstimmungsverhalten im Plenum festzulegen und die Redner zu bestimmen. 28 Schülerinnen und Schüler rennen aufgeregt durch den Raum und diskutieren heftig untereinander. Sie haben noch knapp 25 Minuten Zeit. Dann gibt es Mittagessen und im Anschluss geht es direkt ins Plenum. Noch ist kein Redner bestimmt, keine Rede geschrieben.

Man nennt es auch "Planspiel"

Was hier passiert, nennt sich "Planspiel": Die Wirklichkeit wird spielend simuliert. In diesem Fall sind die Jugendlichen Politiker und erleben sozusagen hautnah, wie Gesetzgebung im Bundesrat funktioniert. Mit einem solchen Engagement hatten Thomas Schopp und Ötztürk Kiran aber nicht gerechnet. Als Betreuer der Länder Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen versuchen sie schließlich über das Mikrophon, ihre aufgelösten Kabinette zu ordnen. Die Schülerinnen und Schüler scheinen ausnahmslos mit ihrer jeweiligen Rolle als Fachminister eines der 16 Länder verwachsen. Nach nur 10 Stunden "Spielzeit".

Premierenprojekt

Am Tag zuvor nahm das Ganze seinen Anfang. Um 9 Uhr empfängt Frau Lorenz gemeinsam mit weiteren Mitarbeitern des Bundesrates die 105 Schülerinnen und Schüler des Johann-Gottfried-Herder Gymnasiums im Plenum. In dieser Größenordnung hat das Rollenspiel im Bundesrat Premiere. Die nächsten zwei Tage gelten als Probelauf für eine Veranstaltung zum 60. Geburtstag des Bundesrates 2009 mit Schülern aus ganz Deutschland.

Foto: Jugendliche bei Planspiel im Plenarsaal des Bundesrates

Scheinbar echt - Planspiel im Bundesrat

© Bundesrat | Frank Bräuer | 2008

Ohne Zögern verteilen sich die Jugendlichen auf den schwarzen Sesseln des Plenarsaals. Selten waren die Ministerplätze so stark weiblich besetzt. Und selten wurde in den Reihen so viel Kaugummi gekaut. Man hebt die Finger zum V-Zeichen und gibt sich betont lässig. Sollten die Schülerinnen und Schüler Respekt haben vor dem, was sie erwartet, dann lassen sie es sich zumindest nicht anmerken.

Der "echte" Direktor ist auch kurz von der Partie. "Mich kann man sowieso nicht vertreten", kommentiert Dirk Brouër den raschen Aufstieg des Herrn Höltkemeier zum "Spieldirektor". Man begrüßt die neuen Mitglieder des Bundesrates. "Guten Morgen Frau Seehofer, Frau Wowereit". Erste Lacher. Dann wird es ernster. "In den kommenden zwei Tagen werdet Ihr den Bundesrat simulieren", Ralph Höltkemeier erklärt dem Plenum, was das heißt. Über die jeweilige Landeszugehörigkeit der Akteure ist bereits entschieden. Ohne dass sie es wussten, sind die Schülerinnen und Schülern durch ihre Platzwahl in den Reihen der 16 Kabinette zu neuen Landeskindern geworden. Erster wichtiger Schritt: Jedes Land bestimmt seinen Innenminister. Da dieser zugleich der stellvertretende Ministerpräsident ist, wird eine Person gesucht, die bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Die anderen Mitglieder der Landesregierungen stellen die übrigen Fachminister. In dieser neuen Identität gestalten die Schülerinnen und Schüler in den kommenden Stunden die Gesetzgebung des Bundesrates. Mit allem was dazu gehört: Entwickeln von Empfehlungen in den Fachausschüssen, Beratungen in den jeweiligen Parteien, mehrfaches Koordinieren und Abstimmen in den Landesregierungen, endgültige Beschlussfassung im Plenum. Nicht zu vergessen die Abgabe von Pressestatements und Interviews im Hauptstadtstudio. Die rasenden Reporter gehen ebenfalls in die 13. Klasse des Johann-Gottfried-Herder Gymnasiums.

Es geht los

Wie im wahren Leben überfordert man die frisch gebackenen Politikerinnen und Politiker zunächst mit Informationen. Verteilt auf verschiedene Räume beginnt das Einlesen in den jeweiligen Landesregierungen. Von echten Vorlagen kaum zu unterscheiden, erhalten die Minister drei verschiedenen Drucksachen. Um die Einführung von Volksabstimmungen auf Bundesebene geht es in der einen, um das Erheben einer Sondersteuer auf Biermixgetränke in der anderen. Selbstverständlich darf in Zeiten zunehmender Europäisierung auch die Politik aus Brüssel nicht fehlen. Die dritte Vorlage befasst sich deshalb mit einer europäischen Richtlinie, die Maßnahmen für eine gesteigerte Energieeffizienz für Haushaltsgeräte und Glühbirnen vorsieht. Ebenfalls zu den Unterlagen gehören diverse Hintergrund- und Länderinformationen. In jedem Fall genug Stoff, um Spannungen unter den verschiedenen Partei- und Regierungszugehörigkeiten zu provozieren.

Foto: Die Jugendlichen bei einer Pressekonferenz

Scheinbar echt - Planspiel im Bundesrat

© Bundesrat | Frank Bräuer | 2008

Noch ehe sich das Gefühl der "neuen Macht" unter den Politikern voll entfalten kann, ist sich das Presseteam seines Einflusses bewusst. Bereits am Mittag liefert es erste Schlagzeilen. "Neue Energiegesetze nur Fassade?", "Bürger zu dumm für Volksentscheid", schwarz auf weiß steht es auf einer Pinnwand in der Wandelhalle. Und: "Armut im Bundesrat?". In der Tat war das Mittagessen entgegen aller Planungen an diesem ersten Tag etwas dürftig ausgefallen. Bundesfinanzminister alias Ralph Höltkemeier muss sich bei der anschließenden Pressekonferenz deshalb warm anziehen. "Herr Bundesfinanzminister, auf dem heutigen Speiseplan standen Suppe und Brötchen solange der Vorrat reicht. Müsste es nicht besser heißen: Weniger Kuchen für die Banken, dafür mehr Kekse für die Jugend?" Er habe die gleiche Suppe ausgelöffelt, entgegnet Bundesfinanzminister jedoch schlagkräftig. Überhaupt müsse die Finanzkrise von Bund und Ländern gemeinsam angegangen werden.

Der Stein gerät immer mehr ins Rollen

Nicht nur die Zusammenarbeit von Bund und Ländern wird im Laufe der beiden Tage immer professioneller. Vor allem auch die der Ländervertreter untereinander. Angefangen bei den Ausschüssen, die als erste in heftige Debatten eintreten. Am Ende der Beratungen liegen nicht nur ziffernreiche Ausschussempfehlungen, sondern auch einige Länderanträge vor.

Foto: Schüler während einer Ausschusssitzung

Scheinbar echt - Planspiel im Bundesrat

© Bundesrat | Frank Bräuer | 2008

In den Länderkabinetten und Parteisitzungen setzen sich die Diskussionen dann fort. Schließlich wird auf allen Ebenen gefachsimpelt: Sei es über Höhe des erforderlichen Quorums beim Volksentscheid oder die Nichtberücksichtigung von Sponsorengeldern bei einer Kostenrückerstattung für Initiatoren von Volksabstimmungen. Regelrecht gefeilscht wird über die Höhe der Sondersteuer für Biermixgetränke und ihre Auswirkungen auf kleine und mittelständische Unternehmen.

Besonders ihre Doppelrolle als Parteienmitglied und Vertreter einer Landesregierung scheint viele Jugendliche zu reizen. Wie dort ungeachtet der Kabinettszugehörigkeit Kooperationen in den jeweiligen Parteien beschlossen werden, hat schon fast den Charakter von Seilschaften. Nicht nur dadurch entwerfen die Schülerinnen und Schüler in diesen Tagen ein Spiegelbild der Realität: Am Ende der zweitägigen Verhandlungen drohen alle Gesetzentwürfe an der Blockadehaltung der FDP zu scheitern. Heftige Auseinandersetzungen und ein deutlicher Appell der Innenminister an die Landesverantwortung ermöglichen zu guter Letzt schließlich aber doch noch einen Kompromiss.

Professionelle Gelassenheit im Plenum

Foto: Blick auf Präsidium während des Auszählens

Scheinbar echt - Planspiel im Bundesrat

© Bundesrat | Frank Bräuer | 2008

"Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich eröffne die 851. Sitzung des Bundesrates" - eine beeindruckend souveräne Bundesratspräsidentin führt am Mittwochnachmittag durch die Plenarsitzung. In durchweg überzeugenden Reden verteidigen die Landesminister ihre jeweiligen Interessen. Auch von dem engagierten Auftritt der Bundesfamilienministerin Antje Lorenz - im wahren Leben Leiterin des Besucherdienstes - lassen sie sich nicht aus der Ruhe bringen: "Frau Ministerin, erlauben Sie mir eine korrigierende Anmerkung. Berlins Koma-Säufer haben sich wohl kaum mit Biermixgetränken ins Koma verabschiedet."

Foto: Jugendliche bei Planspiel im Plenarsaal des Bundesrates

Scheinbar echt - Planspiel im Bundesrat

© Bundesrat | Frank Bräuer | 2008

Äußert diszipliniert sitzen sie da, die 105 Schülerinnen und Schüler. Das Ergebnis ihrer Beschlussfassung ist eindeutig: Volksabstimmungen auf Bundesebene sollen kommen. Ebenso die Sondersteuer auf Biermixgetränke. Außerdem wünschen die Länder mehr Umweltschutz durch Energieeffizienz - und zwar schneller als ursprünglich von Brüssel vorgesehen.

Viel Applaus beim abschließenden Hauptstadtstudio

Derartige Beschlüsse gehören natürlich an die Öffentlichkeit. Bereits 20 Minuten nach Beendigung der Plenarsitzung geht deshalb das Hauptstadtstudio auf Sendung - inklusive einer Live-Berichterstattung zum Pilotprojekt im Bundesrat. "Wie haben Ihnen denn die letzten beiden Tage im Bundesrat gefallen?", das Mikro richtet sich an die Reihen der Schülerinnen und Schüler - scheinbar vor dem Fernseher sitzend. Im Gegensatz zu den Kontroversen bei der politischen Auseinandersetzung sind sich jetzt alle einig: Sie hatten extrem viel Spaß und haben enorm dazugelernt. Wenn man die Stimmung der vergangenen Tage miterlebt hat, glaubt man diese Antwort sofort.

Stand 25.11.2008

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