Herr Präsident, was bedeutet Ihnen Ihr neues Amt und was erwarten Sie davon?
Zunächst einmal freue ich mich auf ein vor mir liegendes Jahr mit einer zusätzlichen politischen Aufgabe und Verantwortung. Zugleich habe ich großen Respekt vor diesem Amt und nehme es nicht auf die leichte Schulter, denn mit ihm ist die besondere Verantwortung verbunden, dafür zu sorgen, dass der Bundesrat seine Rolle als Sachwalter der Länderinteressen im Rahmen der Gesetzgebung erfüllen kann.
Welche Ziele haben Sie sich für die Zeit Ihrer Präsidentschaft gesetzt?
Über den Bundesrat können die Länder ihre Sichtweisen, Interessen und Probleme in der Bundesgesetzgebung verankern. Aus meiner Erfahrung als Bürgermeister einer Großstadt und als Präsident des Senats eines kleinen Landes halte ich dabei ein Politikfeld für besonders wichtig und vordringlich. Ich spreche von der Integration der Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Migrationshintergrund.

Bundesratspräsident Jens Böhrnsen im Interview
© Bundesrat | 2009
Ich glaube, wir sehen alle die sich immer weiter öffnende Schere unterschiedlicher Lebenschancen. Das setzt bereits bei den Chancen auf den Erwerb von Bildungsabschlüssen an. Diese Entwicklung alarmiert mich. In Bremen versuchen wir mit Integrationswochen, Begegnungen und Gesprächen zwischen Migranten und Institutionen dem etwas entgegen zu setzen. Die Stärkung des sozialen Zusammenhalts unserer Gesellschaft auch dadurch ist eine der zentralen Zielsetzungen der Bremer Senatspolitik.
Eine verstärkte Zusammenarbeit von Bund und Ländern könnte der Integrationspolitik einen zusätzlichen Schub verleihen. Dabei geht es nicht um bürokratische Gesetzgebung, sondern darum, gesellschaftliche Realität aufzunehmen und daraus politische Handlungen abzuleiten.
Im Bundesrat wird sich die neue Bundesregierung ebenso wie ihre Vorgängerin auf eine parteipolitische Mehrheit stützen können. Bleibt es also weiterhin ruhig im Bundesrat?
Das sehe ich nicht so. Der Bundesrat war nie ruhig. Er hat sich nie koalitionspolitisch einbinden lassen, von bestimmten Phasen einmal abgesehen. Das Verhältnis zwischen Bund und Ländern hat parteipolitische Positionen immer überlagert. Das wird auch in Zukunft so sein, denn die Bürgerinnen und Bürger erwarten von ihren Landesregierungen, dass diese im Bundesrat vor allem die Interessen der Länder vertreten.
Die Koalitionslandschaft in den Ländern ist bunter geworden. Wie wird sich das auf die Arbeit des Bundesrates auswirken?
Ich sehe nicht, dass der Bundesrat in die Gefahr kommt, sich selbst zu blockieren. Das könnte nur dann passieren, wenn sich die Koalitionspartner in den Ländern nur an ihren jeweiligen Bundesparteien orientieren. Deswegen haben wir in Bremen in unseren Koalitionsvertrag eine Regelung aufgenommen, die das ausschließen soll. Wir orientieren uns beispielsweise in unserem Abstimmungsverhalten allein daran, was aus landespolitischer Sicht die richtige Entscheidung ist. Wenn man diesem Grundsatz folgt, kann der Bundesrat trotz Koalitionsvielfalt weiterhin seine Rolle spielen.
Auch die drei Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen werden von unterschiedlichen Koalitionen regiert. Wie wirkt sich das auf die Durchsetzung gemeinsamer Interessen aus?

Bundesratspräsident Jens Böhrnsen im Interview
© Bundesrat | Peter Wilke | 2009
Die Stadtstaaten haben im Föderalismus eine besondere Aufgabe. Sie bringen die Sichtweise, die Probleme, die Chancen und Risiken der Städte in den Bundesrat ein. Das führt dazu, dass wir uns aus Stadtstaatensicht über parteipolitische Grenzen hinweg häufig zu gemeinsamen Initiativen zusammenfinden.
Alle drei Stadtstaaten und ihre Bürgermeister sind Mitglieder im Präsidium des Deutschen Städtetages, der die Interessen von mehreren hundert Städten in Deutschland vertritt. Da die Städte in den Flächenländern nicht die Möglichkeit der unmittelbaren Beteiligung auf Bundesebene haben, werden die Stadtstaaten auch als Verfechter der Interessen aller Städte in der Bundesgesetzgebung gesehen.
Einige Experten fordern, kleine Länder mit anderen zusammenzulegen, so dass möglichst gleichgroße Länder entstehen. Macht eine Länderneugliederung Sinn?
Ich sehe keine Konjunktur für dieses Thema. Es taucht immer mal wieder auf, aber es verschwindet auch immer wieder. Und das zu Recht, denn der deutsche Föderalismus ist nicht am Reißbrett entstanden. Die Länder wurden aufgrund ihrer historischen Entwicklung und der Verbundenheit der Menschen in ihrer Region gebildet und eben nicht nach betriebswirtschaftlichen Kriterien. Die Vielfalt aus großen, kleinen, alten und neuen Ländern, aus Stadtstaaten und Flächenländern zeichnet den Föderalismus aus und daraus folgt auch eine Gleichberechtigung der Länder. Für eine Länderneugliederung sieht unser Grundgesetz Volksabstimmungen vor. Deswegen bin ich dezidiert gegen alle Versuche, diese Beteiligung der Menschen aus dem Grundgesetz zu nehmen und das den Kabinetten und Parlamenten zu überantworten. Denn der Föderalismus mit seinen Ländern trägt auch wesentlich zur Identifizierung der Menschen mit ihrer Heimat bei.

Bundesratspräsident Jens Böhrnsen im Interview
© picture-alliance | dpa
Ich darf auch daran erinnern, dass es Länder mit föderaler Struktur wie zum Beispiel die USA gibt, wo das Verhältnis zwischen größtem und kleinstem Bundesstaat sehr viel dramatischer ist als zwischen Nordrhein-Westfalen und Bremen. Dennoch kommt da kein Mensch auf den Gedanken, einen der Bundesstaaten abzuschaffen. Übrigens kommt auch kein Mensch auf den Gedanken, die Frage der Stimmenzahl zu ändern - jeder Staat hat dort zwei Senatorinnen oder Senatoren. Diese Gleichberechtigung der Länder ist - so glaube ich - das Wesentliche im Föderalismus.
Wer etwas anderes, einen anderen Staat, will, der muss sich umschauen, wie zentralistische Staaten organisiert sind. Frankreich ist da das klassische Beispiel. Aber auch dort hat man zunehmend die Vorteile von dezentralen Strukturen entdeckt und ist dabei, in einem durchaus komplizierten Verfahren sehr viel mehr Kompetenzen in die Fläche hinein zu geben. Ich erlebe jedenfalls, wenn ich mit ausländischen Gästen spreche, durchaus nicht nur großes Interesse, sondern große Sympathie für einen Staatsaufbau, wie wir ihn hier in Deutschland haben.
Föderalismus in Deutschland verbinden viele Bürger mit der Pluralität des Bildungssystems. Bildung ist eine Kernkompetenz der Länder, aber die Mehrheit der Bürger wünscht sich bundeseinheitliche Vorgaben. Welchen Vorteil bietet eine föderal strukturierte Bildungspolitik?
Die Föderalismuskommission I hat diese Frage eindeutig entschieden. Ich glaube, neue Grundsatzdebatten helfen hier nicht weiter und lenken nur ab von dem Eigentlichen, nämlich davon, dass wir uns auf eine inhaltlich gute Bildungspolitik konzentrieren und in Bildung investieren müssen - überall in Deutschland. Das ist keine Frage von Zuständigkeiten, sondern von Engagement. So gibt es bei den Bildungsabschlüssen bereits Kooperationen zwischen den Ländern. Außerdem muss sich die Zusammenarbeit auch auf die Bildungsinhalte erstrecken. Hier müssen Wege zu einer weiteren Vereinheitlichung gefunden werden.

Bundesratspräsident Jens Böhrnsen im Interview
© Bundesrat | Frank Bräuer | 2009
Prinzipiell halte ich die Zuordnung der Bildungskompetenz bei den Ländern nicht für überholt, sondern für durchaus erfolgreich. Das zeigt auch der Blick auf andere Länder, wo zentral festgelegt wird, dass an einem bestimmten Tag eine bestimmte Abiturarbeit in allen Schulen des Landes geschrieben wird. Das ist nicht unbedingt der Weg zu besseren Bildungsergebnissen und zu mehr Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit.
Zum Abschluss noch eine ganz andere Frage: Kurz nach Übernahme Ihrer Präsidentschaft jährt sich der Fall der Berliner Mauer zum 20. Mal. Haben Sie eine besondere persönliche Erinnerung an den 9. November 1989?
Meine intensivste Erinnerung ist eigentlich schon mit dem 9. Oktober 1989 verbunden, als ich die Bilder von Leipzig aus der Nikolaikirche, von den Gebeten und von den großen Demonstrationen sah. Ich habe mit großer Bewunderung aber gleichzeitig unendlicher Sorge die Ereignisse verfolgt. Und so gesehen war der 9. November 1989 ein Tag der Erleichterung. Meine Bewunderung galt vor allem dem Mut zur Freiheit, den die Menschen gezeigt haben, dem Mut, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und mit dem friedlichsten aller Mittel, nämlich mit Kerzen, diesen Freiheitswillen zu zeigen. Mich bewegt das auch rückblickend noch. Wenige Tage nach dem Mauerfall bin ich auf dem kürzesten Weg von Bremen über die Elbe nach Boizenburg gefahren. Das war das erste Mal, dass ich die Grenze auf diesem Weg und so einfach überschritten habe.