Sollte der Bundestag diesen Gesetzentwurf verabschieden, könnte dies das 58. verfassungsändernde Gesetz in der Geschichte der Bundesrepublik sein. Das Grundgesetz ist seit seiner Ausfertigung am 23. Mai 1949 nämlich bereits 57 Mal geändert worden, wovon insgesamt 114 Artikel - 47 sogar mehrfach - betroffen waren. Am häufigsten musste sich Artikel 74 (Gebiete der konkurrierenden Gesetzgebung) einer Veränderung unterziehen, der bisher allein zehn Mal reformiert wurde.

Grundgesetz im Fluss
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Die meisten verfassungsändernden Gesetze fallen in die 5. Wahlperiode des Bundestages (12), wohingegen in der 8., 9. und 15. Legislatur keine entsprechenden Beschlüsse zu verzeichnen sind. Der längste Zeitraum, in der die Verfassung unverändert blieb, betrug nahezu siebeneinhalb Jahre (1976 -1984). Die letzten Grundgesetzänderungen datieren aus dem Jahr 2009 und betrafen die Verankerung des Parlamentarischen Kontrollgremiums (Artikel 45 d) und die europakonforme Ausgestaltung der Luftverkehrsverwaltung (Artikel 87 d). Beiden Gesetzen stimmte der Bundesrat am 10. Juli 2009 zu.
Die bisherigen 57 Gesetze beinhalten lediglich sieben Änderungen des Grundrechtsabschnitts - dies verdeutlicht den herausgehobenen Schutz der Grundrechte.
Schutz der Verfassung, Ewigkeitsgarantie

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Verfassungsreformen sind mit hohen Hürden verbunden, die Artikel 79 festschreibt. Danach kann das Grundgesetz nur durch ein Gesetz geändert werden, das dessen Wortlaut ausdrücklich ändert oder ergänzt und der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates bedarf.
Darüber hinaus genießen die Grundrechte einen zusätzlichen Schutz, der Artikel 19 zu entnehmen ist. Hiernach darf ein Grundrecht in keinem Fall in seinem Wesensgehalt angetastet werden.
Die Gliederung des Bundes in Länder und die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung sind sogar als unabänderlich festgeschrieben. Gleiches gilt für die in den Artikeln 1 - Menschenwürde, Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte - und 20 - Verfassungsgrundsätze - niedergelegten Grundsätze. Dieser besondere Status wird deshalb auch als Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes bezeichnet.
Größte Verfassungsreformen

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Die größte Verfassungsreform in der Geschichte der Bundesrepublik ist nach allgemeiner Auffassung die sogenannte Föderalismusreform I (Reform der bundesstaatlichen Ordnung), der der Bundesrat am 7. Juli 2006 zustimmte. Von ihr waren insgesamt 25 Grundgesetzartikel betroffen. Im Mittelpunkt dieses Reformpaktes stand die Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern.
Heute weniger bekannt ist jedoch, dass mit der Einführung der sogenannten Notstandsverfassung im Jahr 1968, welche die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisensituationen (Naturkatastrophen, Aufstand, Krieg) sichern sollte, sogar 28 Artikel geändert, eingeführt oder aufgehoben wurden.
Kritische Stimmen
Die relativ häufigen Verfassungsreformen sind nicht unumstritten.
So bezeichnete sich der Erste Bürgermeister Hamburgs Ole von Beust kürzlich in einer Debatte des Bundesrates am 16. Oktober 2009 als eher zum Verfassungspurismus neigend. Aus seiner Sicht sollte das Grundgesetz nicht andauernden Änderungen unterworfen werden. Zugleich betonte er jedoch, die vergangenen Jahre hätten gezeigt, dass es nicht mehr der gesellschaftlichen und verfassungsrechtlichen Wirklichkeit entspreche, diesen Standpunkt zu vertreten. Verfassungspurismus sei vielleicht ehrenwert, werde der Wirklichkeit aber nicht mehr gerecht. Es sei heute folglich nicht mehr die Frage, ob man Veränderungen vornehme, sondern ob diese inhaltlich vernünftig sind.

Grundgesetz im Fluss
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In derselben Debatte äußerte sich auch die damalige Bundesjustizministerin Brigitte Zypries in ähnlicher Weise. Sie erläuterte, auch sie sei eher verfassungspuristisch eingestellt. Es sei nicht sinnvoll zu glauben, man ändere die Lebenswirklichkeit, indem man den Verfassungstext verändere. So müsse Selbstverständliches nicht in die Verfassung geschrieben werden. Allerdings sei dafür zu sorgen, das Grundgesetz so weiterzuentwickeln, dass bestimmte noch erforderliche Ziele auch verfolgt werden könnten.
Über die zu häufige Änderung des Grundgesetzes hinaus wird zuweilen auch die mittlerweile große Regelungsdichte der Normen bemängelt. So kritisierte zum Beispiel Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert anlässlich der Diskussion um die sogenannte Föderalismusreform II, in deren Mittelpunkt die Einführung einer Schuldenbremse für Bund und Länder stand, die Vielzahl der verfassungsrechtlichen Detailregelungen. Diese gingen über die eigentliche Funktion des Grundgesetzes hinaus.
Ausblick
Man muss kein großer Prophet sein, um weitere Verfassungsänderungen zu prognostizieren.
So ist zum Beispiel bereits seit Dezember 2009 eine Vorlage mehrerer Länder im Bundesrat anhängig, die das Grundgesetz um zwei weitere Artikel ergänzen soll. Hierdurch wollen die Antragsteller auf das Verfassungsgerichtsurteil vom Dezember 2007 reagieren, in dem festgestellt wurde, dass die sogenannten Hartz-IV Arbeitsgemeinschaften als unzulässige Mischverwaltung verfassungswidrig seien.
Auch wenn das Schicksal dieses Gesetzentwurfs zurzeit noch nicht absehbar ist, zeigt das Beispiel doch, dass schon in der näheren Zukunft weitere Verfassungsreformen nicht auszuschließen sind.