Jubiläum 85. Geburtstag von Bernhard Vogel

Foto: Portrait Bernhard Vogel

© Wolfgang Kumm | dpa

32 Jahre Mitglied des Bundesrates, Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz und Thüringen, zweimal Bundesratspräsident - Bernhard Vogel ist ein Ausnahmepolitiker. Am 19. Dezember 2017 wurde er 85 Jahre alt.

So lange wie Bernhard Vogel stand in Deutschland kein anderer Regierungschef an der Spitze von Landesregierungen. Er ist außerdem der einzige, der als Ministerpräsident sowohl in West- und Ostdeutschland regierte. Vogel gestaltete damit wie kaum ein anderer Politiker aktiv das Zusammenwachsen des wiedervereinigten Deutschland mit.

Im folgenden Interview, das 2015 erstmals erschien, beschreibt er seine Erfahrungen und Gedanken aus dieser Zeit.

Stand 18.12.2017

Interview mit Dr. Bernhard Vogel und Gereon LamersThüringen war ein großes Abenteuer

Dr. Bernhard Vogel im Interview

Dr. Bernhard Vogel im Interview

© Bundesrat | Frank Bräuer

Ein halbes Jahrhundert lang hat Dr. Bernhard Vogel (CDU) das politische Geschehen in der Bundesrepublik mit geprägt. Als einziger deutscher Politiker war er Ministerpräsident in zwei verschiedenen Ländern: von 1976 bis 1988 in Rheinland-Pfalz und von Februar 1992 bis Juni 2003 in Thüringen.

Zusammen mit seinem einstigen persönlichen Referenten, Gereon Lamers, berichtet der 82-Jährige von Startschwierigkeiten im "jungen Land" Thüringen, die Unterschiede zwischen West und Ost und darüber, was das wiedervereinigte Deutschland heute ausmacht.

Herr Dr. Vogel, wie wurden Sie vor Ihrer Wahl zum Ministerpräsidenten als etablierter westdeutscher Politiker in Thüringen empfangen?
Gab es Bedenken, dass ein "Wessi" das Land regieren sollte?

Vogel: Das alles geschah praktisch über Nacht und ohne Vorbereitungszeit. Weil ich im Wesentlichen auf Wunsch meiner Thüringer CDU-Parteifreunde nach Thüringen gegangen bin, wurde ich sehr freundlich aufgenommen - als jemand, der in einer sehr schwierigen Situation helfen wollte. In all den Jahren habe ich auch persönlich nie den Vorwurf gehört, ich sei ja ein Westdeutscher.

Als Sie in Erfurt eintrafen, kannten Sie kaum jemanden und mussten dennoch ein Kabinett bilden. Damals holten Sie Herrn Lamers als persönlichen Referenten zu sich - einen Rheinländer, den sie bereits kannten und der schon einige Monate für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Erfurt aktiv war.
Welche Startschwierigkeiten mussten Sie beide bewältigen?

Vogel: Es gab nicht nur Schwierigkeiten: Es war ein Abenteuer, dessen Ausmaß ich Gott sei Dank nicht gekannt hatte – sonst wäre ich es vielleicht nicht eingegangen. Thüringen glich damals – 1992 – noch einem großen "Verbandplatz", wo viel geheilt werden musste, war aber auch voller Ideen. Plötzlich war ich für ein Land verantwortlich, das es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hatte. Hier ging es ja nicht wie in Polen, der Tschechoslowakei oder in den baltischen Ländern um den Umbau eines Landes, sondern um eine Neu-, oder besser Wieder-Gründung. Denn die Länder in der DDR waren 1952 aufgelöst worden.

Was hielten die Menschen vor Ort von solch einer "Neugründung"?

Vogel: Bereits 1989 hatte die Bevölkerung in der DDR sehr deutlich den Wunsch geäußert, die alten Länder wieder zu schaffen. Ich erinnere mich noch an den Autoaufkleber: "Ein Traum wird wahr - Land Thüringen." Die Landesfahnen überboten schon bald zahlenmäßig die deutsche Nationalfahne. Das war eine sehr bemerkenswerte Erfahrung.

Gab es in der ersten Zeit auch technische Probleme, die Ihre Arbeit erschwerten? Es heißt zum Beispiel, dass Sie zum Telefonieren auf einen Berg steigen mussten. War das so?

Vogel: Im Prinzip schon, nur ein Berg war es nicht: In Erfurt konnten Sie zu manchen Zeiten nur telefonieren, wenn Sie auf die Anhöhe des Steigerwalds fuhren. Das haben wir gelegentlich auch getan. Am Anfang war das Telefonieren schwieriger als das Regieren. Denn Regieren, das hatte ich ja schon gelernt - aber ohne Telefon zu regieren, das nicht.

Lamers: Es gibt eine Anekdote aus dem Frühjahr 1992, die exemplarisch zeigt, mit welchen Herausforderungen wir zu kämpfen hatten. Ein Thüringer Abgeordneter befand sich auf einer Reise nach Neuseeland.

Vogel: Nach Neuseeland?

Lamers: Ja, und wir mussten ihn wegen einer dringenden Abstimmung zurückrufen. Das hat auch geklappt. Es war Anfang 1992 einfacher, ein Fax nach Neuseeland zu schicken als von Thüringen in den ehemaligen DDR-Bezirk Magdeburg.

Vogel: Das Deutsche Museum in München hat damals bei uns angefragt, ob es unsere Erfurter Telefonzentrale bekommen könnte. Das sei die älteste Telefonanlage, die sich in Deutschland noch in Betrieb befände. Das Telefonieren war in der Tat eine der großen Schwierigkeiten. Handys gab es noch nicht, und nur ein Bruchteil der Bevölkerung besaß zu Hause ein Telefon.

Wie haben Sie Ihren Mitarbeiterstab und Ihre Regierung zusammengestellt?

Vogel: Die Schwierigkeit bestand darin, dass ich nur fünf oder sechs Thüringer mit Namen kannte. Es ist ungewöhnlich, dass man Ministerpräsident in einem Land wird, in dem man die Leute nicht kennt. Von Anfang an lautete mein Prinzip: So viele Westdeutsche wie nötig, aber so viele Ostdeutsche wie möglich. Ich habe einen Minister aus Westdeutschland mitgebracht, Franz Schuster, der später Innen- und danach Wirtschaftsminister wurde. Außerdem haben mich meine langjährige Sekretärin aus Mainz, Frau Ursula Renker, mein Pressereferent, Herr Hans Kaiser, und mein Fahrer begleitet. Dr. Michael Krapp, der damalige Chef der Thüringer Staatskanzlei, der in Ilmenau zu Hause war, bot mir sofort an, aus dem Amt zu scheiden. Aber ich habe ihn händeringend gebeten zu bleiben. Denn so hatte ich in meiner unmittelbaren Nachbarschaft jemanden, der sich auskannte. Der mir sagen konnte, wer in das DDR-System verstrickt war oder verfolgt wurde. Die Hilfe von Westdeutschen war - vor allen in den ersten Jahren - unverzichtbar. Und man kann denen, die damals den Mut hatten zu kommen, nur danken.

Lamers: Als Herr Dr. Vogel und ich in Thüringen waren, haben wir eine große Gemeinschaftlichkeit erlebt. Auch mir ist der "Wessi"-Vorwurf extrem selten begegnet. Ich habe mich vom ersten Tag an menschlich ganz besonders gut aufgenommen gefühlt. In meiner Anfangszeit gab es auch Strukturen, die durchaus noch etwas mit den alten Blockparteien zu tun hatten, die sich rein menschlich aber gar nicht so unangenehm anfühlten. Politisch gesehen war das je nach Ebene natürlich schwierig. Dann folgte eine Zeit so intensiver gemeinsamer Arbeit, dass eigentlich für solche Fragen niemand mehr Zeit hatte. Man muss aber auch dazu sagen, dass das eben diejenigen von den alteingesessenen Thüringern waren, die die Chance erhalten hatten mitzumachen. Das galt nicht für alle.

Wie ging es weiter?

Vogel: Nach einiger Zeit hat sich gezeigt, dass auch die Westdeutschen nur mit Wasser kochen können. Außerdem habe ich natürlich den ein oder anderen angetroffen, den ich aus Rheinland-Pfalz her kannte und von dem ich wusste, dass sein Chef schon lange nach einer Möglichkeit gesucht hatte, ihn loszuwerden. Andere wiederum haben eine bestimmte Position angestrebt, die sie in Rheinland-Pfalz nie erreicht hätten, aber inzwischen in Thüringen innehatten. Das sind aber ganz wenige schwarze Schafe, die die große Herde derer, die hervorragende und aus patriotischer Gesinnung gespeiste Arbeit geleistet haben, nicht belasten dürfen. Sie bilden die Ausnahme. Manche "Entwicklungshelfer" sind nach einigen Jahren wieder gegangen. Andere sind geblieben. Herr Lamers in Weimar ist da nicht der einzige.

Lamers: Bei weitem nicht.

Herr Lamers, wie und wann sind Sie nach Erfurt gekommen?

Lamers: Im Mai 1991 mit einem Honorarvertrag der Konrad-Adenauer-Stiftung. Mein Vater war damals im Wahlkampf zur ersten freien Volkskammerwahl aktiv und erzählte mir unglaubliche Geschichten aus diesem fremden Land, das ja doch irgendwie zu uns gehörte. Nach dem Abschluss meines Geschichtsstudiums war ich dann sprichwörtlich krank vor Neugier und habe damals eine Chance gesucht, dieses Land kennenzulernen – völlig ohne weitere Perspektive. Mit 27 Jahren kam ich als Studienabgänger nach Erfurt – und zwar zu den wilden Zeiten des Neuanfanges. Ich war zum Beispiel offiziell jemandem in Leipzig untergeordnet. Der Weg von Leipzig nach Erfurt ist heute dank ICE ein Klacks, aber damals bedeutete das eine gigantische Entfernung. Das Motto lautete also "Mach mal." Das klingt heute chaotisch, bot aber damals eine unglaubliche Chance, die auch viele andere aus meiner Generation erhalten haben. Und wie Herr Dr. Vogel sagt: Die Anzahl der Ganoven war überschaubar.

Sie wurden kurz danach persönlicher Referent des Ministerpräsidenten Bernhard Vogel. Wie kam es dazu?

Dr. Bernhard Vogel (links) und Gereon Lamers im Interview

Dr. Bernhard Vogel (links) und Gereon Lamers während des Interviews

© Bundesrat | Frank Bräuer

Vogel: Wie gesagt, ich kannte ja nur eine Handvoll Leute. Und dann tauchte Herr Lamers auf, dessen Qualitäten ich schon kannte von mehreren Zusammentreffen im Rahmen seiner Tätigkeit für die Adenauer-Stiftung. Er war zwar kein gebürtiger Thüringer, aber er lebte schon fast ein Jahr dort. Verglichen mit mir war er halber Thüringer.

Lamers: Ich hatte ein paar Monate Vorsprung, wenn man so will. Am Mittag des 28. Januar 1992 saß ich dann in Herrn Dr. Vogels Auto. Er sagte: "Können Sie sich mal ein bisschen um mich kümmern?" Daraus sind dann fast acht Jahre in dieser Funktion geworden …

Wie hat sich die erste Zeit Ihrer Zusammenarbeit gestaltet?

Lamers: Die ersten Tage bis zur ersten Wahl von Bernhard Vogel zum Ministerpräsidenten am 5. Februar 1992 haben wir praktisch an zwei Orten gewohnt. Ich hatte natürlich eine Wohnung, aber die habe ich selten gesehen. Der eine Ort war der Fraktionsflur der CDU-Fraktion im Landtag, der andere das Gästehaus der Landesregierung. Ein abenteuerlicher Bau, der in den ersten Jahren des 20. Jahrhundert für einen wilhelminischen Hoffotografen gebaut wurde – und so sah der dann auch aus.

Vogel: Anfang der Neunziger Jahre gab es sehr, sehr wenige Hotels, höchstens ein paar Interhotels. Darum hatte jede Einrichtung, die das nur irgendwie bewerkstelligen konnte, ein Gästehaus – auch der Bezirk Erfurt. Dieses Gästehaus haben wir damals benutzt. Das roch aber noch sehr nach Sozialismus. Auch das Personal dort stammte noch aus DDR-Zeiten. Aber wir konnten ja nicht warten, bis ein Hotel gebaut wurde. Heute ist das natürlich völlig anders. Es gibt kein Gästehaus mehr, weil man ja ins Hotel gehen kann.

Herr Dr. Vogel, wie haben Sie "Ihr" Land Thüringen kennen gelernt?

Vogel: Indem ich zehn dreitägige Fußwanderungen unternahm. 600 Kilometer durch Thüringen: Am Ende habe ich das Land besser gekannt als Rheinland-Pfalz - natürlich auch deshalb, weil Thüringen kompakter ist.

Worin besteht der größte Unterschiede zwischen diesen beiden Ländern?

Vogel: Rheinland-Pfalz ist über viele Generationen ein Grenzland gewesen, in dem Kriege vorbereitet und Kriege geführt wurden. Thüringen dagegen ist eines der ganz wenigen deutschen Länder, die nur an andere deutsche Länder grenzen, und es ist traditionell ein besonders offenes Land. Aus allen Regionen Deutschlands wanderten Menschen zu, ob im 18. oder 19.Jahrhundert und natürlich auch in der jüngeren Vergangenheit.

Wenn Sie Ihre Zeit als Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz vergleichen mit der in Thüringen: Wie unterschiedlich gestaltete sich das Regieren?

Vogel: Der gravierendste Unterschied bestand darin, dass ich Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz wurde, nachdem dieses nach dem Krieg neu entstandene Land schon etabliert war. Ich wurde 30 Jahre nach Gründung des Landes Regierungschef. Nach Thüringen kam ich hingegen in einer Zeit, in der das Land noch gar nicht richtig wieder existierte. Die Situation in Thüringen 1992 war insofern eher vergleichbar mit der Lage in Rheinland-Pfalz im Jahr 1946.
Zweiter Unterschied: In Rheinland-Pfalz berief ich ein Kabinett aus Leuten, die ich lange kannte und die in der Regel erfahrene Politiker waren. Landtagsabgeordnete, Bürgermeister, Landräte, Parteifreunde aus den Jugendorganisationen. In Thüringen bestand die erste Voraussetzung darin, dass ein Kandidat mit dem alten System nichts zu tun hatte. Hingegen bestand das erste Kabinett nach 1945 in Rheinland-Pfalz aus lauter Leuten, die vorher schon einmal in der Weimarer Republik Parlamentarier gewesen waren, Adolf Süsterhenn zum Beispiel oder auch Ministerpräsident Peter Altmeier. In Thüringen lag die Demokratie 57 Jahre zurück. Niemand hatte dort also Erfahrung mit der Demokratie.

Lamers: Das ganze parlamentarische Verfahren, das in der Bundesrepublik über Jahrzehnte eingeübt wurde, bedeutete für Thüringen absolutes Neuland.

Vogel: Ein erstaunlich großer Teil derjenigen, die damals in Thüringen angefangen haben, waren danach ganz lange im Amt. Ich bin auch stolz darauf, dass mein Landwirtschaftsminister Volker Sklenar, den ich am Anfang natürlich auch nicht kannte, 2009 als dienstältester Minister einer deutschen Landesregierung aus dem Amt schied.

Man hört oft, dass es in den Anfangsjahren eine gewisse Offenheit gab, dass also Parteien beispielsweise in den Kreisen nicht so eine große Rolle spielten und dass auch der Fraktionszwang nicht so ausgeprägt war …

Vogel: Selbstverständlich haben die Parteien eine große Rolle gespielt! Sonst wären der Aufbau des Parlamentarismus und unserer Regierung gar nicht möglich gewesen. Richtig ist, dass es mitunter reiner Zufall war, ob jemand von der SPD zum Landrat vorgeschlagen wurde oder von der CDU oder von der FDP. Es konnten ja nur Personen vorgeschlagen werden, die keine politische Bindung zum alten System hatten. Es gab zum Beispiel die Situation, dass ein Kandidat für die Union antrat, weil die örtliche CDU einen Tag früher tagte als die SPD, welche die gleiche Person vorschlagen wollte. Wenn sich das aber nicht verfestigt hätte, wäre daraus keine Demokratie entstanden, sondern nur allgemeines Durcheinander.

Herr Lamers, Herr Dr. Vogel, wenn Sie heute zurückschauen, wie bewerten Sie die politische und gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland? Würden Sie davon sprechen, dass die Einheit tatsächlich auch zustande gekommen ist?

Lamers: Das ist so eine Einhunderttausend-Dollar-Frage. Ich glaube, sie lässt sich tatsächlich nur in der Perspektive mehrerer Generationen beantworten. Eine kleine Minderheit ist mit der politischen Entwicklung in unserem Vaterland auch heute noch nicht einverstanden. Aber auch neuere Phänomene - ich nenne nur das Stichwort "Dresden" beziehungsweise "PEGIDA"- zeigen, dass das kein völlig zu vernachlässigender Impuls ist. Deswegen lautet mein persönliches Fazit: Ja, es gibt diese Einheit weit überwiegend. Ich habe Kinder, die in Erfurt geboren sind - "Erfurter Puffbohnen", wie es so schön heißt. Aber die Einheit bleibt nach wie vor eine Aufgabe, die sich auch noch in etlichen Jahren stellt.

Vogel: Alles in allem ist die Einheit gelungen, auch wenn noch eine ganze Menge zu tun bleibt. Wir müssen berücksichtigen, dass Westdeutschland keine Einheit bildet und auch Ostdeutschland, das am 9. November 1989 noch ziemlich egalitär war, aus sehr unterschiedlichen Regionen besteht. Es ist ein großer Unterschied, ob ich in Garmisch-Patenkirchen zu Hause bin oder in Eckernförde. "Den Westen" gibt es genauso wenig, wie es heute noch "den Osten" gibt. 35 Prozent der deutschen Bevölkerung sind zudem nach 1980 geboren. Sie haben also die Wiedervereinigung nur als kleines Kind oder gar nicht erlebt. Diejenigen, die das alles bewusst erfahren haben, werden immer durch eine andere Welt geprägt sein. Es ist etwas anderes, ob man in den Jahren 1950 bis 1960 im Ruhrgebiet oder in Jena aufgewachsen ist. Und diese Unterschiedlichkeit sollte man auch nicht übertünchen, denn sie bereichert die Bundesrepublik.
Und noch etwas: Ich habe mir nicht vorstellen können, dass wenige Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung die beiden höchsten deutschen Staatsämter durch Ostdeutsche besetzt sein würden, das nicht. Wobei man natürlich sagen muss: Hilfe muss es dort geben, wo die Verhältnisse diese Hilfe am dringendsten erfordern. Nicht mehr unter der Fragestellung, ob diese Verhältnisse nun im Westen oder im Osten zu finden sind. Jena geht es heute besser als Duisburg. Also braucht Duisburg mehr Hilfe als Jena.

Lamers: Der Unterschied in der Infrastruktur ist mit Händen zu greifen. Wenn ich meine Heimatstadt Bonn besuche, weht einem gelegentlich der Charme der späten 70-er und frühen 80-er entgegen. In Thüringen sind wir mittlerweile soweit, dass wir die frühen 90-er für leicht altbacken halten.

Vogel: Ich bin viele hundert Male auf der Autobahn von Frankfurt nach Erfurt gefahren. Die nordhessische Autobahn war zwar nicht sehr modern, aber sie war befahrbar. Und Thüringen begann dort, wo die Autobahn aufhörte und man die alten Wachtürme sah. Heute beginnt Thüringen, wo die Autobahn sechsspurig wird. Im Osten haben wir seit 1945 so gut wie keine neue Autobahn gebaut. Aber die, die nach der Wiedervereinigung gebaut wurden, sind jetzt halt moderner. Ich erinnere mich an den Oberbürgermeister einer westdeutschen Großstadt bei der Einweihung des Krankenhauses von Altenburg. Da hat er zu mir gesagt: "So modern ist mein Krankenhaus nicht." Ich habe ihm geantwortet: "In Ihrer Stadt liegen die Patienten aber auch seit drei Jahrzehnten nicht mehr in Fünf- und Sieben-Bettenzimmern." Wir müssen ein bisschen aufpassen, dass Westdeutsche nicht in einen falschen Neid verfallen.

In Ihrem Buch "Aus der Vogelperspektive", das Sie gemeinsam mit Ihrem Bruder Hans-Jochen Vogel verfasst haben, kritisierten Sie 2007, der Westen habe noch nicht ausreichend begriffen, dass er vom dem Osten lernen kann. Sehen Sie das heute noch so?

Vogel: Der Osten hatte eine wesentlich bessere Kenntnis von Westdeutschland als der Westen von Ostdeutschland. Über Jahrzehnte sahen die Ostdeutschen abends die Tagesschau oder die Heute-Nachrichten. Dadurch erhielt man kein völlig exaktes, aber doch ein gewisses Bild von Westdeutschland. Ich suche nach Westdeutschen, die je die "Aktuelle Kamera", die Nachrichtensendung des DDR-Fernsehens, gesehen haben. Und wer sie gesehen hat, der hätte auch nichts erfahren. Also: Bis heute ist die Kenntnis der Ostdeutschen über Westdeutschland erheblich größer als umgekehrt - und das Interesse ebenfalls: Die Ostdeutschen wollten die Wiedervereinigung. In Westdeutschland war das nur noch der Wunsch einer Minderheit.

Das kam vermutlich auch auf die Region an. Die Berliner waren mit die Glücklichsten, weil die Mauer, die ihre Stadt teilte, endlich verschwunden war.

Vogel: Berlin ist natürlich etwas Besonderes.

… ebenso die Grenzregionen, in denen die Teilung besonders spürbar war.

Vogel: Ich hatte einmal in Erfurt eine Schulklasse aus Konstanz zu Besuch. Die Schüler haben mir gesagt, sie interessierten sich viel mehr dafür, was in Basel und Straßburg los sei als in Erfurt. Das hätte eine Erfurter Klasse in Konstanz nicht gesagt.

Glauben Sie, dass sich nach der Wiedervereinigung auch die "alten Bundesländer" verändert und dazugelernt haben?

Vogel: Ja! Am Anfang haben viele in den alten Ländern gemeint, im Osten müsse sich alles ändern und im Westen könne alles so bleiben. Das hat sich als Irrtum erwiesen, bis hin zum Bundesrat. Sechzehn sind halt mehr als Elf. Das ist nicht nur eine Frage der Sitze. Sie konnten im historisch berühmten "Zimmer 13" mit elf Ländern leichter in kurzer Zeit einen Konsens herstellen als mit sechzehn. Aber das ist im Bundestag nicht anders.
Auch in vielen anderen Beziehungen hat sich etwas geändert. Deutschland ist zum Beispiel protestantischer geworden. Die Katholiken dominieren nicht mehr. Allerdings gehört auch ein größerer Teil der Bevölkerung keiner Kirche mehr an. Die Wiedervereinigung hat ganz Deutschland verändert.

Sie gehen häufig in Schulen und geben dort Ihre Erfahrungen weiter, demnächst auch im Rahmen des "Zeitzeugenprojektes" der Hessischen Landesregierung. Welche Rückmeldungen erhalten Sie von den Schülerinnen und Schülern?

Vogel: Das ist von Schule zu Schule unterschiedlich. Es hängt stark davon ab, wie die Lehrer auf die Begegnung vorbereitet haben. Im Übrigen ist es gut, dass es viele Zeitzeugen gibt, aber ich sage den Schülern immer: Zwischen Zeitzeugen und Historikern besteht eine Spannung, weil Zeitzeugen die Dinge aus einem bestimmten Blickwinkel betrachten. Historiker müssen dagegen das Gesamtbild im Auge haben. Ich bin mir bewusst, dass meine Doppel-Ministerpräsidentschaft besonderes Interesse findet. Und ich leugne nicht, dass das eine sehr fordernde und mühsame Aufgabe war. Aber ich füge hinzu, dass das alles natürlich für mich ungeheuer bereichernd war.

Lamers: Johannes Rau ist sehr schön mit dem Thema umgegangen, als er zu Ihrem 60. Geburtstag Ende 1992 in Erfurt gesprochen hat. Er warf einen Blick zehn Jahre voraus. Kein Mensch wisse, wo Bernard Vogel dann Ministerpräsident sei …

Herr Dr. Vogel, Sie weisen unermüdlich darauf hin, dass der Erfolg eines demokratischen Systems keine Selbstverständlichkeit ist. Wir sind in dieser Demokratie aufgewachsen und nehmen sie als gegeben wahr. In Ihrem Buch: "Mutige Bürger braucht das Land" fordern Sie nun dazu auf, sich stärker zu engagieren. Was genau meinen Sie damit?

Vogel: Wir, die wir in der Nazizeit geboren wurden, wollten eine leistungs- und lebensfähige Demokratie und sind sehr dankbar, dass das alles in allem gelungen ist. Weil alte Leute gerne alles besser wissen, beklagen sie jetzt, dass die jungen Leute Demokratie für selbstverständlich nehmen. Obwohl wir doch eigentlich genau das wollten. Genauso wie ihnen immer vorgeworfen wird, dass sie nicht wissen, was es heißt, hungern zu müssen. Aber wir haben ja, als wir gehungert haben, nicht gewollt, dass die nachfolgenden Generationen auch hungern, sondern wir wollten, dass es denen besser geht. Und genauso ist es.
Die heutige junge Generation hält die Demokratie allerdings in einem Ausmaß für selbstverständlich, wie sie es nicht ist. Deswegen müssen wir immer wieder darauf aufmerksam machen, dass Demokratie die beste, aber auch die mühsamste Staatsform ist. Man kann sie nicht einfach wie ein Konsumgut beziehen, sondern muss sich engagieren und mit anpacken. Das muss nicht unbedingt in einer Partei sein, das kann auch in anderen Initiativen geschehen.
Aber man darf sich nicht darauf verlassen, dass ein demokratischer Staat von selbst lebt und Zukunft hat. Dafür muss man etwas tun. Es ist sehr populär, "Wut" zu äußern: weil der Kindergarten dahin kommt, wo er mich stört. Weil der Bahnhof dahin kommt, wo er mich stört, weil die Straße dorthin führt und nicht dahin. Wutbürger sind populär, aber Wutbürger verhindern manches und bewirken ganz wenig.

Wie groß ist Ihrer Meinung nach die Solidarität miteinander im vereinigten Deutschland?

Vogel: Es gibt eine ungewöhnliche Vielzahl von Engagements. Viel mehr als zu unserer Zeit. Das bewundere ich. Besonders die junge Generation kümmert sich viel häufiger um Dinge, um die wir uns nie gekümmert hätten. Vor kurzem habe ich einen Studenten getroffen, der in Marburg die „Tafel“ organisiert für Leute, die nichts zu essen haben. Ein anderer gibt Kindern von Migranten Deutschunterricht.
Die Sensibilität der jungen Generation ist also größer, merkwürdigerweise aber nur in bestimmten Themenbereichen. Wenn irgendwo in der Welt eine Katastrophe passiert, ist die Spendenbereitschaft in Deutschland überdurchschnittlich groß. Wenn aber in einer Gemeinde ein neuer Bürgermeister gewählt werden muss, interessieren sich plötzlich nur 30 Prozent dafür.

Sie warnen schon länger vor den Gefahren einer zunehmenden Parteienverdrossenheit.

Vogel: Da mache ich auch den Parteien ein bisschen den Vorwurf, dass sie immer so tun, als ob jeder gleich gut informiert wäre. Mir hat neulich ein Mechaniker in meinem Haus an der Heizung etwas gerichtet. Da kamen wir ins Gespräch und er sagte: "Ich weiß, wie die Wasseruhren funktionieren, und Sie wissen, wie politische Entscheidungen getroffen werden. Ich maße mir nicht an, politische Entscheidungen zu treffen, denn Sie wollen ja auch die Wasseruhr nicht richten." Also: Da fehlt es an der ausreichenden Sensibilität, um die Leute dort abzuholen, wo sie sind und um sie besser zu informieren.

Gibt es ein bundesdeutsches Wir-Gefühl?

Vogel: Ja, selbstverständlich. Weil wir zum ersten Mal in unserer Geschichte mit uns selbst im Reinen sind. Es gibt keine Grenze Deutschlands mehr, an der ein Nachbar einen Gebietsanspruch erhebt oder an der wir einen Gebietsanspruch erheben. Wir sind insgesamt mit unserer Staatsform zufrieden. Es ist nicht mehr wie zur Zeit Bismarcks, als erst die Katholiken und danach die Sozialdemokraten verfolgt wurden. Es herrscht ein innerer Frieden. Wenn Thüringer danach gefragt werden, als was sie sich fühlen, antworten viele: zunächst als Thüringer, erst dann als Deutsche und dann als Europäer. Das stört mich gar nicht, und das sollte erst recht nicht den Bundesrat stören.

Man spricht von "alten Ländern" im Gegensatz zu "neuen Ländern". Sie selbst benutzen das Wort "junge Länder". Warum?

Vogel: Weil Thüringen und Sachsen nun wirklich keine neuen Länder sind. Sie sind wesentlich älter als Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz.

Wie groß sind die Unterschiede zwischen den Länder in Deutschland heute?

Vogel: 1989 war die wirtschaftliche Situation in der ganzen DDR sehr ähnlich. Heute unterscheidet sich Mecklenburg-Vorpommern von Thüringen genau so stark wie Hessen von Niedersachsen oder Schleswig-Holstein. Das ist auch ganz in Ordnung so – schon deshalb, weil die Traditionen, die Voraussetzungen ganz andere sind. Thüringen besitzt den Vorteil, in der Mitte Deutschlands und in der Mitte Europas zu liegen. Das trifft auf kein anderes Land in diesem Ausmaß zu.

Herr Dr. Vogel, Herr Lamers, vielen Dank für das Gespräch.

Stand 07.07.2015

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